Rede vom 19.04.2003 von Rainer Bliesener in Stuttgart
Es gilt das gesprochene Wort!
Rainer Bliesener
DGB-Landesvorsitzender
REDE
zum Ostermarsch
19. April 2003
Stuttgart, Schlossplatz
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Liebe Friedensfreundinnen und -freunde,
das Regime Saddam Husseins gehört
der Vergangenheit an.
Ein von den USA einst selbst an
die Macht gebrachter menschenverachtender Diktator,
der Stalin als sein Vorbild verehrte,
ist gestürzt.
Das begrüße ich.
Aber war dafür der Krieg mit
dem unsäglichen Leid für die Bevölkerung notwendig?
Auch viele der Horrorszenarien,
die wir befürchtet haben, sind bisher nicht Wirklichkeit
geworden.
Auch das ist gut so!
Dies einzugestehen heißt
aber nicht, dass damit die Argumente gegen diesen Krieg
hinfällig geworden sind.
Dieser Krieg war und bleibt ein
Unrecht. Es war ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg.
Und dazu kommt, dass bis jetzt
weder Sicherheit, noch Frieden, noch eine Spur von
Demokratie im Irak vorherrscht.
Anarchie und das Recht des Stärkeren
prägen die Bilder aus Bagdad, Basra und den
anderen Städten.
Die humanitäre Situation ist
katastrophal.
Immer wieder wird gekämpft.
Im Nordirak ist ein neuer Krisenherd
entstanden.
Wie es dort zwischen den im Krieg
mit den Amerikanern kämpfenden Kurden und der
Türkei weitergeht, ist unklar.
Nein – ein schneller militärischer
Sieg macht aus einem falschen keinen richtigen Krieg und
vor allen Dingen entsteht damit
nicht automatisch ein stabiler Frieden.
Worum ging es bei dem Krieg?
Ging es um Befreiung, um Demokratie,
um Menschenrechte, um das Roll-Back
autokratischer Regime?
Wenn das die wahren Gründe
sein sollen, dann frage ich, warum die Amerikaner ihre
Angriffe von Kuwait, Saudi-Arabien
oder Katar aus geführt haben.
Dort gibt es keine demokratischen
Strukturen, dort sind Despoten an der Macht die von
Freiheit, Demokratie und Menschenrechten
nicht sehr viel halten.
Lassen wir uns von Bush nicht blenden
- die wahren Gründe liegen in der Sicherung des
amerikanischen Einflusses auf die
Ölquellen.
Es geht ums Öl und die militärische
und politische Vorherrschaft der USA in der Region.
Besonders verdeutlicht haben das
die Bilder von den Plünderungen selbst des
unersetzlichen Kulturgutes des
Irak - unter den Augen der Soldaten - während das
Ölministerium und die Ölförderanlagen
mit Stacheldraht und Militär abgeriegelt wurden.
Das ist ein Skandal!
Heute wissen wir: Dieser Krieg
war längst in der Bush-Administration beschlossen, als in
den Vereinten Nationen noch über
die Waffeninspektionen diskutiert wurde.
Dieser Krieg war unverhältnismäßig.
Der Preis für den Sieg, die
Opfer, die Kosten und für die politischen Folgen ist nicht zu
verantworten.
Dieser Krieg war ein völkerrechtswidriger
Angriffskrieg.
Der politische Flurschaden, den
die USA damit angerichtet haben, ist erheblich, vielleicht
noch größer als der
materielle Schaden.
Die USA haben die UN verhöhnt,
die NATO diskreditiert und die transatlantischen
Beziehungen auf eine harte Probe
gestellt.
Sie haben die UN-Charta mit Füßen
getreten.
An die Stelle des Rechts haben
sie die Macht des Stärkeren gesetzt.
Wie unvollkommen auch immer die
UN sein mögen und so oft sie auch in der
Vergangenheit versagt haben mögen:
Sie waren bisher die anerkannte Institution zur
Regelung internationaler Konflikte,
und das müssen sie so schnell wie möglich auch
wieder werden.
Den USA sind aber anscheinend die
UN-Regeln bei der Durchsetzung ihrer Interessen
hinderlich.
Ein internationales Gewaltmonopol,
das ausschließlich bei den UN angesiedelt ist, soll es
nicht geben.
Aber nur die UN haben dafür
die moralische Legitimation. Wir brauchen und wollen keinen
Weltpolizisten USA.
Das ist Aufgabe und Funktion der
UN.
Nein - dieser Sieg rechtfertigt
weder die Opfer noch den Rechtsbruch!
Tausende Unschuldiger sind umgekommen
– der Preis für die Beseitigung einer angeblich
akuten Bedrohung, die es nach allem,
was wir derzeit wissen, nicht gegeben hat.
Vielleicht werden uns ja auch bald
wieder sogenannte „Beweise“ präsentiert, die den
Krieg nachträglich doch noch
rechtfertigen sollen.
Bisher sind jedenfalls keine Beweise
der angeblich vorhandenen
Massenvernichtungswaffen aufgetaucht.
Für mich steht außer
Frage: Zur Abrüstung des Iraks war dieser Krieg nicht notwendig,
das hätten die UN-Waffeninspektoren
mit mehr Zeit und Unterstützung genauso erreichen
können.
Nicht vergessen dürfen wir
auch, dass in den letzten 10 Jahren durch die Folgen der
Sanktionen und Bombardierungen
bereits eine halbe Million Kinder im Irak gestorben sind
und die Bevölkerung sehr darunter
gelitten hat, während die politischen Eliten weiterhin im
Luxus lebten.
Der Krieg dauert also schon viel
länger. Es war nur oberflächlich betrachtet ein Blitzkrieg.
Und er ist noch längst nicht
zu Ende.
Selbst die Bush-Administration
lässt durch den stellvertretenden Verteidigungsminister
Wolfowitz verkünden, dass
man sich jetzt im vierten Weltkrieg befinde.
Als dritter Weltkrieg zählt
für ihn der Kalte Krieg.
Für die ultrakonservativen
Strategen der Bush-Administration ist der Irak nur eine Episode
gewesen.
Es ging den Amerikanern um mehr
als den Irak.
Es geht ihnen auch um mehr als
den Nahen Osten oder den Krieg gegen den Terror.
Es geht ihnen um eine neue außenpolitische
Doktrin, die Krieg als Fortsetzung der Politik
mit anderen Mitteln betrachtet
und Präventivkriege für legitim hält.
Es geht ihnen um die globale Festigung
der Führungsrolle der USA.
Der militärische Erfolg ermuntert
die Strategen der Bush-Administration.
Die Frage ist: Wer wird der Nächste
sein im Kampf gegen das von Bush beschworene
„Böse“? Syrien? Iran?
Dazu darf es nicht kommen!
Deshalb dürfen wir in unseren
Protesten nicht nachlassen.
Einen „demokratischen Imperialismus“,
wie die US-Strategen das nennen, kann es nicht
geben. Beides zusammen widerspricht
sich.
Demokratisch ist, wenn das Selbstbestimmungsrecht
der Völker gewahrt und geachtet
wird.
Imperialistisch ist, jemand mit
Waffengewalt oder wirtschaftlichem Zwang eine neue
Ordnung aufzunötigen.
Und die Schiiten im Irak haben
ja auch schon sehr deutlich gezeigt, dass sie sich keine Pax
americana, kein Protektorat, sondern
einen Staat nach ihren Ideen vorstellen.
Sie kritisieren die US-Politik
bereits als „Kolonialismus“.
Ich möchte auch gern glauben,
dass es bis zum Jahr 2005 einen eigenständigen
Palästinenserstaat geben soll,
wie Bush in seiner Grundsatzrede zur Neuordnung des
Nahen Ostens verkündet hat.
Dieser Staat ist längst überfällig
– genauso wie Frieden zwischen Israel und den Arabern.
Aber wieso sollen ausgerechnet
die Palästinenser jetzt den Amerikanern vertrauen, die
jahrelang jede Verletzung von UN-Resolutionen
durch Israel toleriert haben?
Die Antwort auf beide Fragen steht
schon lange fest. Schon lange vor dem Krieg. Der
Rest waren diplomatische Spielchen
und Zeitgewinn für den Aufmarsch.
Zahlen sollen nun viele Länder,
die Aufträge aber hat schon lange vor dem Krieg die
Bush-Administration auf die US-Wirtschaft
verteilt.
So trafen sich nach einem Bericht
des ‚Wall Street Journal‘ bereits im Oktober 2002
hochrangige Mitarbeiter des Pentagon
und des Weißen Hauses mit Vertretern der
Wirtschaft, um die Pläne für
die irakische Ölindustrie abzustimmen.
Das Maß an Vetternwirtschaft,
die unheilige Allianz von Politik und Kapital, nicht nur in
dieser Branche, ist ungeheuerlich!
An den immensen Kosten des Irak-Krieges
werden wir alle noch lange zu kauen haben.
Die direkten Kosten für den
Krieg sind mit 80 Milliarden noch der kleinere Posten – die
Kosten für den Wiederaufbau
betragen ein Vielfaches.
Die USA versuchen jetzt, die auf
100 Milliarden Dollar allein im ersten Jahr geschätzten
Kosten des Wiederaufbaus auf andere
zu verlagern.
Die UN und Europa sind als Zahlende
willkommen, entscheiden aber will Washington: Eine
Rolle ja, Regie nein.
Die Bundesregierung wäre gut
beraten, sich hierbei zurückzuhalten, im Gegensatz zur
Regierung Kohl, die beim letzten
Golfkrieg den Krieg mit erheblichen Zahlungen
mitfinanziert hat.
Wer Krieg führt, soll auch
für die Folgen zahlen.
Zunächst einmal sind die kriegführenden
Parteien dafür verantwortlich.
Nach der Genfer Konvention haben
die Besatzungsmächte die Pflicht, die Lebensmittel-
und Medikamentenversorgung der
Bevölkerung sicherzustellen.
Dabei haben sie bisher kläglich
versagt.
Die deutsche Rolle muss sich auf
zivile Mittel beschränken, auf technische und humanitäre
Hilfen – so viel und so schnell,
wie es nur irgend geht.
Den Menschen zu helfen ohne nachträglich
den Krieg und seine Folgekosten
mitzufinanzieren muss die Linie
sein.
Der Wiederaufbau des Irak muss
unter dem Dach der UNO und der Weltbank organisiert
werden – nicht unter einem US-Protektorat
oder einer von den USA installierten
Marionettenregierung!
Die Bundesregierung kann dabei
eine Vermittlerrolle übernehmen.
Sie gilt aufgrund ihres Antikriegskurses
in der arabischen Welt als glaubwürdig.
Wir brauchen jetzt diplomatische
Schritte und nicht immer neue Drohungen und
Muskelspiele der USA gegenüber
bestimmten arabischen Staaten.
Die Bundesregierung muss zusammen
mit der EU Motor sein bei der Stärkung der Rolle der
UN im Nachkriegsirak und bei dem
Suchen nach Lösungen für einen dauerhaften Frieden
im Nahen Osten.
Liebe Friedensfreundinnen und –freunde,
auch wenn wir nicht mehr so viele
sind wie auf dem Höhepunkt des Krieges - der
schnelle Sturz des Regimes von
Saddam Hussein lässt uns nicht verstummen.
Nein – nichts ist jetzt wichtiger
als weiterhin unsere Stimme zu erheben – laut und
vernehmlich – für Frieden
und ein friedliches Zusammenleben überall auf der Welt.
Wir müssen aber auch unsere
Stimme erheben gegen eine mögliche Erhöhung des
Rüstungshaushalts.
Wir brauchen jeden Euro für
Bildung und die Finanzierung unserer sozialen
Sicherungssysteme.
Eine Politik, die auf der einen
Seite Einschnitte in das soziale Sicherungssystem vornimmt,
auf der anderen Seite den Rüstungsetat
erhöhen will, wäre eine zutiefst unsoziale Politik.
Wir müssen unsere Stimme erheben
gegen eine mögliche Entsendung deutscher Soldaten
in den Irak.
Wir müssen unsere Stimme erheben
gegen die unverantwortliche Verschwendung von
Mitteln, die für die Armutsbekämpfung
fehlen.
80 Milliarden Dollar haben die
USA für den Krieg bereitgestellt. Für Entwicklungshilfe
werden jährlich weltweit nur
50 Milliarden Dollar ausgegeben – vieles davon ist auch noch
reine Exportförderung für
die heimische Industrie.
Wir müssen unsere Stimme erheben
für eine andere Energiepolitik, die die Abhängigkeit
vom Erdöl verringert.
Wir müssen unsere Stimme erheben
für die weltweite Geltung des Völkerrechts und eine
starke UNO.
Wir müssen unsere Stimme erheben
für den Ausgleich zwischen Arm und Reich und eine
gerechte Weltwirtschaftsordnung.
Viele Menschen haben in den letzten
Monaten viel gelernt. Viele haben mit ihrem
Engagement die Demokratie mit Leben
erfüllt. Besonders auf die vielen Schülerinnen und
Schüler können wir stolz
sein. Sie haben nicht die Schule geschwänzt, sondern fürs
Leben gelernt!
Wir alle sind Teil einer weltweiten
Bewegung, die wachsen wird, auch wenn die
Teilnehmerzahlen an den Kundgebungen
wegen des Kriegsendes ihren Höhepunkt
überschritten haben.
Uns und unseren Kindern eine bessere
Welt zu gewinnen – dafür lohnt es sich zu streiten
– nicht nur am Ostermarsch.
Vielen Dank!