Sie werden sich wundern, liebe Mitbürgerinnen
und Mitbürger, bei einer Demonstration einen Prälaten am Mikrophon
zu finden. Was hat mich bewogen, heute morgen hier zu stehen?
Es ist die Bitte des Gesamtkirchengemeinderats
und des Kirchenbezirksausschusses Heilbronn, der ich gern entspreche. Ich
stehe hier also im Namen der gewählten Vertreterinnen und Vertreter
der 27 Kirchengemeinden des Heilbronner Kirchenbezirks und bringe die Resolution
zur Sprache, die von ihren Leitungsgremien beschlossen wurde:
Der Evangelische Kirchenbezirk Heilbronn
und die Evangelische Gesamtkirchengemeinde Heilbronn sind bestürzt
darüber, dass schon wieder eine Demonstration der NPD in Heilbronn
stattfinden soll.
Wir können über die ausländerfeindlichen
Parolen und die Verherrlichung des nationalsozialistischen Regimes nicht
einfach hinweg sehen und erheben dagegen unseren Protest.
Christen sind der Versöhnung
und dem friedlichen Interessenausgleich verpflichtet. Wir wenden uns gegen
alle Parteien und Organisationen, welche durch Ausgrenzung von Mitmenschen
ihre eigennützigen Interessen verfolgen und damit die Menschenwürde
missachten, die sie für sich selbst in Anspruch nehmen.
Wir rufen Bürgerinnen und Bürger
auf,
ihr Stimmrecht auszuüben, damit der Einfluss extremer Gruppen bei
der Bundestagswahl gering bleibt.
Ich stehe hier aber auch im eigenen
Namen. Als ein Mensch, der im Jahr 1941 geboren wurde und der im Lauf seines
Lebens das Entsetzen darüber gelernt hat, was in seinem Geburtsjahr
geschehen ist: der geplante und eiskalt durchgeführte Massenmord an
Juden, der Mord an ungezählten geistig und körperlich behinderten
Menschen, die nun plötzlich zum ‚lebensunwerten Leben’ erklärt
wurden. Der Überfall auf Russland, das Wüten der SS und der Krieg
der deutschen Wehrmacht gegen die Menschen in Weißrussland. Ich war
mehrfach in Weißrussland, stand auf den Plätzen, auf denen die
SS ganze Dörfer mitsamt den Menschen niedergebrannt hat, habe mit
den Überlebenden geredet. Wer ein Regime, das dermaßen grausame
Verbrechen angeordnet hat, verharmlost oder gar verklärt, dem kann
ich nicht verschüchtert zusehen. Dem muss ich öffentlich widersprechen.
Ich stehe hier als Mitglied einer Familie,
die in den letzten zwei Weltkriegen zwölf Männer verloren hat,
Einer von ihnen, ein Pfarrer der Bekennenden Kirche, wurde in Buchenwald
ermordet. Ich zähle auch die Schwester meiner Mutter dazu, die als
sensible Künstlerin in den Konflikten mit der Gestapo wahnsinnig wurde
und in ihrer Angst in den Tod gesprungen ist. Es ist unerträglich,
wenn die selben Parolen, die in die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts
geführt haben, wieder öffentlich propagiert werden. Wir haben
die Pflicht, uns dagegen zu verwahren.
Ich stehe hier als Großvater
zweier Enkelsöhne. Ich will nicht, dass sie es eines Tages erleben,
dass im Auftrag einer Partei ihnen auf dem Schulhof CD-Scheiben in die
Hand gedrückt werden von Rechtsrock-Bands, die Namen tragen wie ‚Faustrecht’
oder ‚Nahkampf’ und die den Einsatz hemmungsloser Gewalt verherrlichen.
Wie kontraproduktiv ist das: Lehrerinnen und Lehrer mühen sich, den
Jugendlichen Begriffe von Demokratie, vom friedensförderlichen Umgang
mit Konflikten, zu erschließen, während vor dem Schulhof Beauftragte
einer sich demokratisch nennenden Partei ihnen diesen geistigen Giftmüll
in die Hand drücken. Wir wehren uns gegen Drogendealer, warum nicht
auch gegen Leute, die Heranwachsenden die Droge der menschenverachtenden
Gewalt aufdrängen?
Ich stehe hier als Bürger von
Heilbronn, einer Stadt, die für den Größenwahn des Faschismus
fürchterlich hat büßen müssen. Wer die Gedenkfeiern
des 4. Dezember auf dem Ehrenfriedhof erlebt, wer mit alten Heilbronnerinnen
spricht, der ahnt, was sie in der Brandnacht durch-litten haben. Jeder
von uns weiß, dass die englischen Bomben auf Heilbronn die Antwort
auf deutsche Bomben auf Coventry und London waren und dass ein verantwortungsloser
Nationalismus unser Volk in diesen hem-mungslosen Krieg getrieben hat.
In dieser Stadt, die un-ter dem Krieg so sehr gelitten hat, haben nationalistische
Hetzparolen nichts zu suchen.
Ich bitte und beschwöre jeden,
der hören und verstehen kann: Lasst die oft versteckte, dann wieder
unverschämt offene Verherrlichung des Nationalsozialismus. Zu viele
Menschen haben unter ihm unsäglich gelitten. Und zu viele sind durch
ihn schwer schuldig geworden. Es war für das deutsche Volk, für
ungezählte Einzelne, schwer genug, die Schuld, in die sie verstrickt
wurden, sich und anderen einzugestehen und einen besseren Neuanfang zu
wagen. Was tun wir unserem Volk an, wenn wir hinter diese Seelenarbeit
und Gewissensarbeit zurück fallen? Und es war für die Opfer des
NS-Regimes schwer, mit ihren Mitmenschen, die an ihnen schuldig wurden,
befriedet und versöhnlich weiterzuleben. Was wird ihnen angetan, wenn
die Schatten von damals wieder vor ihnen auftauchen?
Ich sage zugleich aber auch allen,
die bereit sind, aus der deutschen Geschichte zu lernen: Hört auf
mit der Verharmlosung des DDR-Regimes und seiner Stasi-Herrschaft. Redet
mit denen, die schon als Schulkinder, als Studenten, als junge Christen
Jahrzehnte ihres Lebens unter dem Zynismus dieses Regimes gelitten haben.
Und denkt an die Tapferen, die mit ihrem gewaltlosen Protest unter erheblicher
Gefahr dieses Joch abgeschüttelt haben.
Und jeder, der in seinem Leben angetreten
ist, sich für eine bessere und menschlichere Gerechtigkeit einzusetzen,
möge sich kritisch fragen, ob die Herrschaft dieser oder jener sich
absolut setzenden Ideologie Menschen zum eigenständigen Denken befreit
oder ihr eigenes Denken und Verantworten erstickt.
Um das eigenständige Denken geht
es, wenn wir eine menschenfreundliche und offene Gesellschaft wollen. Ich
stehe hier auch als einer, der aus seiner Vorliebe für die deutsche
Kultur nie ein Hehl gemacht hat. Was war denn die Haltung der maßgebenden
deutschen Dichter und Denker? Sie haben gelebt in der Begegnung mit anderen
Kulturen und haben aus dieser Begegnung Geist und Leben empfangen.
Lessing schrieb den Nathan, der die
Begegnung der jüdischen, der orientalisch-islamischen und der deutschen
Kultur zeigt. Friedrich Schiller lässt seine Dramen in Böhmen,
in Genua, in Spanien, Schottland, Frankreich, der Schweiz, in Russland
und in Messina spielen. Schiller, ein Europäer ersten Ranges, der
von sich bekannt hat: „Es ist ein armseliges, kleinliches Ideal, für
eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geiste ist diese Grenze
durchaus unerträglich“. Johann Gottfried Herder warnt vor der Überheblichkeit
anderen Nationen gegenüber. Die ‚Tat zum Wohl der Menschen’ rät
er jeder Nation, nicht die kümmerliche Beschränkung auf nationalen
Egoismus. J.W. Goethe hat seinen ‚West-Östlichen Diwan’ geschrieben
und in ihm den Vers „Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident, Nord
und südliches Gelände ruht im Frieden seiner Hände“. Die
großen deutschen Dichter haben nicht gedeutschtümelt. Sondern
sie haben im Nehmen und Geben der Kulturen ihre Stimme entfaltet.
Alle wirkliche Kultur – und die deutsche
besonders – ist Begegnung. Der lebendige Geist liebt das offene Fenster
und die offene Tür. Verschließt man Fenster und Türen in
nationalistischer Engstirnigkeit, so kommt eine Atmosphäre heraus,
wie man sie in lang nicht mehr gelüfteten Zimmern antrifft. Ich wünsche
den Menschen von weit rechts, die um die deutsche Kultur fürchten,
dass sie sich etwas gründlicher als bisher mit der deutschen Kultur
befassen. Damit sie ihre weltoffene Weite entdecken.
Ich will das Gleiche ängstlichen
Christen sagen, die um den Bestand ihres Glaubens fürchten, wenn Menschen
anderen Glaubens ihre Nachbarn und Mitbewohner sind. Die stärksten
und kreativsten Zeiten des Christentums waren die Zeiten, in denen die
Christen umringt waren von Menschen anderen Glaubens. Wenn Christus wirklich
das Licht der Welt ist, dann müssen wir für sein Licht nicht
fürchten.
Lasst mich – nicht nur im Blick auf
Rechtsradikale – auch ein Wort zum Antisemitismus sagen. Diese Infektion
hat viele Gesichter. Wer meint, er habe dieses Fieber ein für allemal
ausgeschwitzt, der kann sich sehr täuschen. Auch wir Christen sind
vor ihr durchaus nicht gefeit. Nicht nur, dass in allen christlichen Konfessionen
jahrhundertealter kirchlicher Antijudaismus dem mit Rassenwahnideen verbundenen
faschistischen Antisemitismus vorgearbeitet hat, es gibt auch heute immer
wieder unter achtbaren Christen dieses Ausrutschen, diesen Hang, seine
eigene christliche Art vor einem dunklen jüdischen Hintergrund zu
profilieren. Ein geistig wacher Mensch sollte an diesem Punkt selbstkritisch
auf der Hut sein. Es sollte uns auch die Geschichte zeigen, dass Menschen,
die von der Krankheit der Judenverachtung befallen sind, sich selbst ruinieren.
Wer das aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht gelernt hat, der
ist verblendet.
Noch ein Wort zu Europa. Es ist wahr,
die Europäische Gemeinschaft hat schwere Aufgaben zu lösen. Und
die Osterweiterung hat diese Aufgaben vermehrt. Aber es ist ein grandioser
Fortschritt in Europa geschehen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Europa zwei mal ein einziges Schlachtfeld, auf dem die europäischen
Völker einander zerfetzt haben. In der zweiten Hälfte wurde ein
Netz geknüpft von Beziehungen, die dem Frieden der europäischen
Völker dienen. Dieses Netz ist zu pflegen. Wer den historischen Fortschritt
zum Frieden will, der kann nicht den Ausstieg aus der Europäischen
Union fordern. Der kann das eigene Volk nur darin bestärken, dieses
Netz des Friedens zu verstärken. Ginge es nach den politischen Forderungen
Rechtsradikaler, dann würden wir Deutschen morgen zum Dorftrottel
Europas. Das haben wir nicht nötig. Es gilt, in Europa unsere Rolle
als Förderer des Friedens wahrzunehmen.
Und ein Wort zu denen, die sich selbst
gern als Patrioten vorstellen und die sich dann doch oft mehr als Nationalisten
outen. Es gibt einen Patriotismus, der das Gegenteil des Nationalismus
ist. Stellt der Nationalist das eigene Volk über andere Völker,
indem sich auf eine Politik des nationalen Eigennutzes verengt, so äußert
sich beim Patrioten die Verbundenheit mit der eigenen Nation in der Sehnsucht
danach, dass unser eigenes Volk mit seiner Kraft den anderen Nationen zum
Frieden und zum Leben dient.
Erlauben Sie, dass ich Ihnen zum Schluss
aus einer Rede zitiere, die im Jahr 1930 ein 24jähriger deutscher
Student in New York seinen amerikanischen Kommilitonen hielt. Er schildert,
wie sein Volk im Weltkrieg und in der Hungerzeit danach gelitten hat. Er
wehrt sich gegen den Kriegsschuldparagraphen des Versailler Vertrags, den
er für ungerecht hält und der sein Volk demütigt. Dann berichtet
er von der großen Friedenssehnsucht seines Volkes. Stören Sie
sich bitte nicht an der jugendbewegten Sprache dieses 24Jährigen,
der heute 99 wäre. Er berichtet: Mir kommt ein Abend in den Sinn,
den ich vor nicht allzu langer Zeit mit einer Gruppe junger Leute unserer
deutschen Jugendbewegung verbrachte. Es war eine herrliche Sommernacht.
Wir waren im Freien,...auf dem Gipfel eines Berges, über uns der Himmel
mit seinen Millionen von Sternen in der Stille des Abends, unter uns die
Lichter in den Dörfern, die nebligen Felder und die schwarzen Wälder.
Die Jungen zündeten ein großes Feuer an. Und während wir
in das lodernde Feuer starrten, fing ein Junge zu sprechen an von seiner
Liebe für sein Land und für den bestirnten Himmel, der über
alle Nationen, über alle Menschen schiene, und er sagte, wie wunderbar
es wäre, wenn die Menschen aller Nationen in Frieden und Stille lebten
wie die Sterne dort oben am Himmel, wenn die Nationen zusammen leben könnten
wie Brüder. Als er geendet hatte, erhoben alle Jungen und Mädchen
ihre Hände zum Zeichen, dass sie bereit wären, ein jeder an seinem
Platz für diesen Frieden zu wirken, für den Frieden im eigenen
Land und in der Welt. Dann setzten wir uns. Und während das Feuer
ausbrannte, sangen wir unsere schönen Volkslieder von der Liebe zum
Vaterland und dem Frieden für alle Menschen. Mit einem tiefen Verständnis
für unsere große, vor uns liegende Aufgabe gingen wir heim.
Der junge Mann, der sich hier als ein
Friedenspatriot outet, ist Dietrich Bonhoeffer, der später der Gewissensberater
der Verschwörer gegen Hitler wurde und den das NS-Regime in den letzten
Kriegstagen in Flossenbürg erhängt hat.
Ich wünsche uns allen, dass auch
wir mit einem tiefen Verständnis für unsere große Friedensaufgabe
im eigenen Volk und zwischen den Völkern an unsere Arbeit gehen.
(Es gilt das gesprochene
Wort)