Wer ist ein Patriot?
                              Rede bei der Kundgebung
                              ‚Gemeinsam gegen Nazis in
                              Heilbronn’
                              auf dem Berliner Platz in
                              Heilbronn
                              am 17. September 2005
                              durch
                              Prälat Paul Dieterich

Sie werden sich wundern, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, bei einer Demonstration einen Prälaten am Mikrophon zu finden. Was hat mich bewogen, heute morgen hier zu stehen?
Es ist die Bitte des Gesamtkirchengemeinderats und des Kirchenbezirksausschusses Heilbronn, der ich gern entspreche. Ich stehe hier also im Namen der gewählten Vertreterinnen und Vertreter der 27 Kirchengemeinden des Heilbronner Kirchenbezirks und bringe die Resolution zur Sprache, die von ihren Leitungsgremien beschlossen wurde:

Der Evangelische Kirchenbezirk Heilbronn und die Evangelische Gesamtkirchengemeinde Heilbronn sind bestürzt darüber, dass schon wieder eine Demonstration der NPD in Heilbronn stattfinden soll.
Wir können über die ausländerfeindlichen Parolen und die Verherrlichung des nationalsozialistischen Regimes nicht einfach hinweg sehen und erheben dagegen unseren Protest.
Christen sind der Versöhnung und dem friedlichen Interessenausgleich verpflichtet. Wir wenden uns gegen alle Parteien und Organisationen, welche durch Ausgrenzung von Mitmenschen ihre eigennützigen Interessen verfolgen und damit die Menschenwürde missachten, die sie für sich selbst in Anspruch nehmen.
Wir rufen Bürgerinnen und Bürger auf, ihr Stimmrecht auszuüben, damit der Einfluss extremer Gruppen bei der Bundestagswahl gering bleibt.

Ich stehe hier aber auch im eigenen Namen. Als ein Mensch, der im Jahr 1941 geboren wurde und der im Lauf seines Lebens das Entsetzen darüber gelernt hat, was in seinem Geburtsjahr geschehen ist: der geplante und eiskalt durchgeführte Massenmord an Juden, der Mord an ungezählten geistig und körperlich behinderten Menschen, die nun plötzlich zum ‚lebensunwerten Leben’ erklärt wurden. Der Überfall auf Russland, das Wüten der SS und der Krieg der deutschen Wehrmacht gegen die Menschen in Weißrussland. Ich war mehrfach in Weißrussland, stand auf den Plätzen, auf denen die SS ganze Dörfer mitsamt den Menschen niedergebrannt hat, habe mit den Überlebenden geredet. Wer ein Regime, das dermaßen grausame Verbrechen angeordnet hat, verharmlost oder gar verklärt, dem kann ich nicht verschüchtert zusehen. Dem muss ich öffentlich widersprechen.
Ich stehe hier als Mitglied einer Familie, die in den letzten zwei Weltkriegen zwölf Männer verloren hat, Einer von ihnen, ein Pfarrer der Bekennenden Kirche, wurde in Buchenwald ermordet. Ich zähle auch die Schwester meiner Mutter dazu, die als sensible Künstlerin in den Konflikten mit der Gestapo wahnsinnig wurde und in ihrer Angst in den Tod gesprungen ist. Es ist unerträglich, wenn die selben Parolen, die in die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt haben, wieder öffentlich propagiert werden. Wir haben die Pflicht, uns dagegen zu verwahren.
Ich stehe hier als Großvater zweier Enkelsöhne. Ich will nicht, dass sie es eines Tages erleben, dass im Auftrag einer Partei ihnen auf dem Schulhof CD-Scheiben in die Hand gedrückt werden von Rechtsrock-Bands, die Namen tragen wie ‚Faustrecht’ oder ‚Nahkampf’ und die den Einsatz hemmungsloser Gewalt verherrlichen. Wie kontraproduktiv ist das: Lehrerinnen und Lehrer mühen sich, den Jugendlichen Begriffe von Demokratie, vom friedensförderlichen Umgang mit Konflikten, zu erschließen, während vor dem Schulhof Beauftragte einer sich demokratisch nennenden Partei ihnen diesen geistigen Giftmüll in die Hand drücken. Wir wehren uns gegen Drogendealer, warum nicht auch gegen Leute, die Heranwachsenden die Droge der menschenverachtenden Gewalt aufdrängen?
Ich stehe hier als Bürger von Heilbronn, einer Stadt, die für den Größenwahn des Faschismus fürchterlich hat büßen müssen. Wer die Gedenkfeiern des 4. Dezember auf dem Ehrenfriedhof erlebt, wer mit alten Heilbronnerinnen spricht, der ahnt, was sie in der Brandnacht durch-litten haben. Jeder von uns weiß, dass die englischen Bomben auf Heilbronn die Antwort auf deutsche Bomben auf Coventry und London waren und dass ein verantwortungsloser Nationalismus unser Volk in diesen hem-mungslosen Krieg getrieben hat. In dieser Stadt, die un-ter dem Krieg so sehr gelitten hat, haben nationalistische Hetzparolen nichts zu suchen.
Ich bitte und beschwöre jeden, der hören und verstehen kann: Lasst die oft versteckte, dann wieder unverschämt offene Verherrlichung des Nationalsozialismus. Zu viele Menschen haben unter ihm unsäglich gelitten. Und zu viele sind durch ihn schwer schuldig geworden. Es war für das deutsche Volk, für ungezählte Einzelne, schwer genug, die Schuld, in die sie verstrickt wurden, sich und anderen einzugestehen und einen besseren Neuanfang zu wagen. Was tun wir unserem Volk an, wenn wir hinter diese Seelenarbeit und Gewissensarbeit zurück fallen? Und es war für die Opfer des NS-Regimes schwer, mit ihren Mitmenschen, die an ihnen schuldig wurden, befriedet und versöhnlich weiterzuleben. Was wird ihnen angetan, wenn die Schatten von damals wieder vor ihnen auftauchen?
Ich sage zugleich aber auch allen, die bereit sind, aus der deutschen Geschichte zu lernen: Hört auf mit der Verharmlosung des DDR-Regimes und seiner Stasi-Herrschaft. Redet mit denen, die schon als Schulkinder, als Studenten, als junge Christen Jahrzehnte ihres Lebens unter dem Zynismus dieses Regimes gelitten haben. Und denkt an die Tapferen, die mit ihrem gewaltlosen Protest unter erheblicher Gefahr dieses Joch abgeschüttelt haben.
Und jeder, der in seinem Leben angetreten ist, sich für eine bessere und menschlichere Gerechtigkeit einzusetzen, möge sich kritisch fragen, ob die Herrschaft dieser oder jener sich absolut setzenden Ideologie Menschen zum eigenständigen Denken befreit oder ihr eigenes Denken und Verantworten erstickt.
Um das eigenständige Denken geht es, wenn wir eine menschenfreundliche und offene Gesellschaft wollen. Ich stehe hier auch als einer, der aus seiner Vorliebe für die deutsche Kultur nie ein Hehl gemacht hat. Was war denn die Haltung der maßgebenden deutschen Dichter und Denker? Sie haben gelebt in der Begegnung mit anderen Kulturen und haben aus dieser Begegnung Geist und Leben empfangen.
Lessing schrieb den Nathan, der die Begegnung der jüdischen, der orientalisch-islamischen und der deutschen Kultur zeigt. Friedrich Schiller lässt seine Dramen in Böhmen, in Genua, in Spanien, Schottland, Frankreich, der Schweiz, in Russland und in Messina spielen. Schiller, ein Europäer ersten Ranges, der von sich bekannt hat: „Es ist ein armseliges, kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geiste ist diese Grenze durchaus unerträglich“. Johann Gottfried Herder warnt vor der Überheblichkeit anderen Nationen gegenüber. Die ‚Tat zum Wohl der Menschen’ rät er jeder Nation, nicht die kümmerliche Beschränkung auf nationalen Egoismus. J.W. Goethe hat seinen ‚West-Östlichen Diwan’ geschrieben und in ihm den Vers „Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident, Nord und südliches Gelände ruht im Frieden seiner Hände“. Die großen deutschen Dichter haben nicht gedeutschtümelt. Sondern sie haben im Nehmen und Geben der Kulturen ihre Stimme entfaltet.
Alle wirkliche Kultur – und die deutsche besonders – ist Begegnung. Der lebendige Geist liebt das offene Fenster und die offene Tür. Verschließt man Fenster und Türen in nationalistischer Engstirnigkeit, so kommt eine Atmosphäre heraus, wie man sie in lang nicht mehr gelüfteten Zimmern antrifft. Ich wünsche den Menschen von weit rechts, die um die deutsche Kultur fürchten, dass sie sich etwas gründlicher als bisher mit der deutschen Kultur befassen. Damit sie ihre weltoffene Weite entdecken.
Ich will das Gleiche ängstlichen Christen sagen, die um den Bestand ihres Glaubens fürchten, wenn Menschen anderen Glaubens ihre Nachbarn und Mitbewohner sind. Die stärksten und kreativsten Zeiten des Christentums waren die Zeiten, in denen die Christen umringt waren von Menschen anderen Glaubens. Wenn Christus wirklich das Licht der Welt ist, dann müssen wir für sein Licht nicht fürchten.
Lasst mich – nicht nur im Blick auf Rechtsradikale – auch ein Wort zum Antisemitismus sagen. Diese Infektion hat viele Gesichter. Wer meint, er habe dieses Fieber ein für allemal ausgeschwitzt, der kann sich sehr täuschen. Auch wir Christen sind vor ihr durchaus nicht gefeit. Nicht nur, dass in allen christlichen Konfessionen jahrhundertealter kirchlicher Antijudaismus dem mit Rassenwahnideen verbundenen faschistischen Antisemitismus vorgearbeitet hat, es gibt auch heute immer wieder unter achtbaren Christen dieses Ausrutschen, diesen Hang, seine eigene christliche Art vor einem dunklen jüdischen Hintergrund zu profilieren. Ein geistig wacher Mensch sollte an diesem Punkt selbstkritisch auf der Hut sein. Es sollte uns auch die Geschichte zeigen, dass Menschen, die von der Krankheit der Judenverachtung befallen sind, sich selbst ruinieren. Wer das aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht gelernt hat, der ist verblendet.
Noch ein Wort zu Europa. Es ist wahr, die Europäische Gemeinschaft hat schwere Aufgaben zu lösen. Und die Osterweiterung hat diese Aufgaben vermehrt. Aber es ist ein grandioser Fortschritt in Europa geschehen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Europa zwei mal ein einziges Schlachtfeld, auf dem die europäischen Völker einander zerfetzt haben. In der zweiten Hälfte wurde ein Netz geknüpft von Beziehungen, die dem Frieden der europäischen Völker dienen. Dieses Netz ist zu pflegen. Wer den historischen Fortschritt zum Frieden will, der kann nicht den Ausstieg aus der Europäischen Union fordern. Der kann das eigene Volk nur darin bestärken, dieses Netz des Friedens zu verstärken. Ginge es nach den politischen Forderungen Rechtsradikaler, dann würden wir Deutschen morgen zum Dorftrottel Europas. Das haben wir nicht nötig. Es gilt, in Europa unsere Rolle als Förderer des Friedens wahrzunehmen.
Und ein Wort zu denen, die sich selbst gern als Patrioten vorstellen und die sich dann doch oft mehr als Nationalisten outen. Es gibt einen Patriotismus, der das Gegenteil des Nationalismus ist. Stellt der Nationalist das eigene Volk über andere Völker, indem sich auf eine Politik des nationalen Eigennutzes verengt, so äußert sich beim Patrioten die Verbundenheit mit der eigenen Nation in der Sehnsucht danach, dass unser eigenes Volk mit seiner Kraft den anderen Nationen zum Frieden und zum Leben dient.
Erlauben Sie, dass ich Ihnen zum Schluss aus einer Rede zitiere, die im Jahr 1930 ein 24jähriger deutscher Student in New York seinen amerikanischen Kommilitonen hielt. Er schildert, wie sein Volk im Weltkrieg und in der Hungerzeit danach gelitten hat. Er wehrt sich gegen den Kriegsschuldparagraphen des Versailler Vertrags, den er für ungerecht hält und der sein Volk demütigt. Dann berichtet er von der großen Friedenssehnsucht seines Volkes. Stören Sie sich bitte nicht an der jugendbewegten Sprache dieses 24Jährigen, der heute 99 wäre. Er berichtet: Mir kommt ein Abend in den Sinn, den ich vor nicht allzu langer Zeit mit einer Gruppe junger Leute unserer deutschen Jugendbewegung verbrachte. Es war eine herrliche Sommernacht. Wir waren im Freien,...auf dem Gipfel eines Berges, über uns der Himmel mit seinen Millionen von Sternen in der Stille des Abends, unter uns die Lichter in den Dörfern, die nebligen Felder und die schwarzen Wälder. Die Jungen zündeten ein großes Feuer an. Und während wir in das lodernde Feuer starrten, fing ein Junge zu sprechen an von seiner Liebe für sein Land und für den bestirnten Himmel, der über alle Nationen, über alle Menschen schiene, und er sagte, wie wunderbar es wäre, wenn die Menschen aller Nationen in Frieden und Stille lebten wie die Sterne dort oben am Himmel, wenn die Nationen zusammen leben könnten wie Brüder. Als er geendet hatte, erhoben alle Jungen und Mädchen ihre Hände zum Zeichen, dass sie bereit wären, ein jeder an seinem Platz für diesen Frieden zu wirken, für den Frieden im eigenen Land und in der Welt. Dann setzten wir uns. Und während das Feuer ausbrannte, sangen wir unsere schönen Volkslieder von der Liebe zum Vaterland und dem Frieden für alle Menschen. Mit einem tiefen Verständnis für unsere große, vor uns liegende Aufgabe gingen wir heim.
Der junge Mann, der sich hier als ein Friedenspatriot outet, ist Dietrich Bonhoeffer, der später der Gewissensberater der Verschwörer gegen Hitler wurde und den das NS-Regime in den letzten Kriegstagen in Flossenbürg erhängt hat.
Ich wünsche uns allen, dass auch wir mit einem tiefen Verständnis für unsere große Friedensaufgabe im eigenen Volk und zwischen den Völkern an unsere Arbeit gehen.

(Es gilt das gesprochene Wort)