Rainer Hinderer, MdL
 

Ansprache Synagogengedenkstein am 09.11.2013

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Gäste der Gedenkfeier am Synagogengedenkstein in Heilbronn,
Ich weiß nicht, ob sie meinen Eindruck teilen, dass uns das Jahr 2013 besonders viele runde Jahres- und Gedenktage beschert.
Für einen Sozialdemokraten ohnehin
150 Jahre Parteijubiläum der SPD
13. August: 100. Todestag von August Bebel
18. Dezember: 100. Geburtstag von Willy Brandt.
Aber auch jenseits unserer Parteigrenzen gab es im Jahr 2013 gewichtige historische Ereignisse zu feiern und zu gedenken:
der 65. Jahrestag der Gründung des Staates Israels am 14. Mai
der 60. Jahrestag des Volksaufstands in der DDR am 17. Juni
der 50. Jahrestag der Rede des US-Präsidenten John F. Kennedy am 28. August 1963 mit dem berühmten Zitat „Ich bin ein Berliner“,
oder auch der 50. Jahrestag am 28. August der historischen Rede des US-amerikanischen Bürgerrechtlers Martin-Luther King „Ich habe einen Traum“
Ob das Feiern der Grundwerte der Sozialdemokratie, ob die Erinnerung an den Wunsch zur Völkerverständigung und zum Zusammenwachsen von Ost und West, ob  das Gedenken an die Überwindung der Rassentrennung von Schwarz und Weiß - für uns dürfen solche Gedenktage nicht nur Erinnerungswert haben, sondern müssen zugleich historische Zeitansagen sein, eine Botschaft vermitteln, wie wir unser Zusammenleben heute gut und gelingend gestalten können.
Die Kultur des Erinnerns ermöglicht es uns nicht nur, sondern fordert uns dazu auf, Schlüsse aus unserer Geschichte für die Beantwortung aktueller gesellschaftlicher und politischer Fragestellungen zu ziehen.

Vorgestern hatten wir im Landtag eine Gedenkveranstaltung anlässlich des 275. Jahrestags der Hinrichtung von Joseph Süß Oppenheimer in Stuttgart. Aus diesem bereits 1738 kühl kalkulierten Justizmord wurden in den folgenden Jahrhunderten nicht nur keine Lehren gezogen, sondern die Geschichte wurde grausam verfälscht – gipfelnd in der unsäglichen Verunglimpfung dieser historischen Persönlichkeit durch den Nazi-Propagandafilm „Jud Süß“.
Wie verhält es sich mit dem Jahrestag der Reichspogromnacht des Jahres 1938? Zum 75.mal jährt sich heute dieses traurige Ereignis der deutschen Geschichte - wahrlich kein Grund zum Feiern!
Der 75. Jahrestag - ein Tag der Trauer, der Schande, ein Ort des Sich-Schämens aber auch ein Anlass des Sich-Bewusstmachens, dass so ein Unheil nie wieder geschehen darf.
In der Nacht vom 09. auf den 10. November vor 75 Jahren zeigten die Nationalsozialisten unverblümt ihr wahres, schreckliches Gesicht: Blühendes jüdisches Gesellschafts-, Geschäfts- und Religionsleben wurde ausgelöscht.
Der Staat hat sich in dieser Nacht von seiner Wächter- und Schutzfunktion final verabschiedet und ist spätestens ab diesem Zeitpunkt zu einer Schurken- und Mörderorganisation verkommen. (Rede Guido Wolf, 07.11.2013)
Die Nazis haben gebrandschatzt, geraubt, gemordet.
Rechtsstaatliche Reaktionen seitens der Polizei und der Justiz sind weitgehend  ausgeblieben.
Viele sind dabeigestanden - haben zugesehen oder auch weggeschaut.
Nicht irgendwo – hier mitten unter uns, hier im Herzen von Heilbronn.
Noch im Jahre 1927 schrieb Oskar Mayer in einer Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der Heilbronner Synagoge – Zitat: „Eine lange Zeit friedlicher und ungestörter Entwicklung möge diese führenden Männer instand setzen, ihr hohes Ziel zu verwirklichen, die israelitische Gemeinde Heilbronn zu immer größerer Blüte zu bringen, zur Ehre des Judentums und zur Ehre des deutschen Vaterlandes.“
Diese patriotischen Worte von Oskar Mayer waren Ausdruck für einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft des jüdischen Lebens in unserer Stadt.
Sechs Jahre später übernahmen die Nationalsozialisten die Macht. Und elf Jahre später, am Morgen des  10. November 1938, gingen die Synagoge an der Allee und am gleichen Tag zahlreiche jüdische Geschäfte inmitten der Stadt in Flammen auf.
In der Shoa verloren 234 Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens aus der Heilbronner Kernstadt und aus Sontheim ihr Leben.
Die jüdischen Wurzeln in Heilbronn reichen zurück bis ins Jahr 1050.
Menschen jüdischen Glaubens haben die Entwicklung unserer Stadt seit jeher mit beeinflusst und geprägt. Auch in der Zeit vor dem Nationalsozialismus haben viele jüdische Persönlichkeiten in Heilbronn gewirkt; sie haben ihr Umfeld politisch mitgestaltet.
Da ich ja nicht nur Landtagsabgeordneter sondern auch überzeugter Kommunalpolitiker bin, möchte ich ihnen heute eine Persönlichkeit vorstellen, die lange Jahre im Heilbronner Rathaus gewirkt hat.
Seine Geschichte steht vielleicht exemplarisch für viele andere.
1855 wurde Max Rosengart geboren. Seine Jugend erlebte er im Kaiserreich, dennoch war er stets überzeugter Demokrat. Politisch aktiv wurde er in der Süddeutschen Volkspartei, einer linksliberalen Bewegung. Zwischen 1892 und 1894 übernahm er kommissarisch die Geschäfte des Heilbronner Oberbürgermeisters. Über 30 Jahre wirkte Rosengart als Mitglied im Heilbronner Gemeinderat. 1928 schied er mit 73 Jahren aus dem Gremium aus. Er war  eine allseits geschätzte und anerkannte Persönlichkeit. 1927 wurde, als Anerkennung seiner Verdienste, eine Straße nach ihm benannt, die Rosengartstraße. Drei Jahre darauf im Jahr 1930 erhielt er die Ehrenbürgerwürde der Stadt Heilbronn. Wohnhaft war er nur wenige Meter von hier entfernt in der Wilhelmstraße 7, mitten in der Stadt, wo er auch seine Anwaltskanzlei betrieb.
Die Heilbronner Nazis verunglimpften ihn in ihrer Zeitung, dem „Heilbronner Beobachter“ als „Kommunisten-Förderer“ und entzogen ihm nach ihrer Machtübernahme umgehend die Ehrenbürgerrechte. Im Alter von 84 Jahren musste Max Rosengart aus seiner Heimatstadt fliehen. 1939 emigrierte er mit seiner Frau Emma nach Schweden, wo er 1943 im Exil starb.
Nach seinem Tod würdigte ihn der Stadthistoriker Willy Dürr:
„Es gab kaum ein Gebiet, auf dem er sich nicht durch seinen scharfen Verstand, seine rasche Auffassungsgabe und seine Sachkenntnis auszeichnete. Durch seine persönliche Liebenswürdigkeit und wegen seiner lebendigen geistvollen Art wurde er allseits geschätzt.“
Ein weiterer Nachdenktag in diesem Jahr ist der 80. Jahrestag der Machtergreifung der Nationalsozialisten.
Am 23. März 1933, es war ein Donnerstag, beging die parlamentarische Demokratie buchstäblich Selbstmord und ebnete den Nazis den Weg zur Diktatur und Tyrannei.
Die Mehrheit der Reichstagsabgeordneten stimmte dem Ermächtigungsgesetz zu. Nur 94 SPD Abgeordnete stimmten gegen das Gesetz. Einer davon war der Heilbronner Fritz Ullrich, der spätere baden-württembergische Innenminister.
Ich erlaube mir, im Jubiläumsjahr der Sozialdemokratie anlässlich dieses Ereignisses nochmals an Otto Wels zu erinnern:
Kurz nach 18 Uhr hält der SPD-Fraktionsvorsitzende die letzte freie Rede im Reichstag und spricht die berühmten Worte: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.  Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten“.
Otto Wels flüchtete anschließend vor den Nazis nach Prag und später nach Paris, wo er 1939 starb.
„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“ – ich denke, Otto Wels konnte 1933 allenfalls ahnen, was Hitler wirklich im Schilde führte.
Wissen konnte er noch nicht, welche ungeheuren Gräueltaten die Menschen in Deutschland und Europa erwarteten. Ich denke, das überstieg selbst seine Vorstellungskraft.
Der selbsternannten Herrenrasse ging es nicht nur um die Freiheit und um das Leben ihrer Gegner – nein: tatsächlich wollten sie ihnen die Ehre nehmen, jegliche Selbstachtung zerstören, ihre Würde brechen.
Wie anders lassen sich die unvorstellbaren Gräueltaten in den Ghettos, in den Arbeits- und Konzentrationslagern, in den Gaskammern und Verbrennungsöfen erklären?
Vertrieben, gefoltert, geschändet, ausgehungert, nackt in den Tod getrieben – mit dem Ziel ein ganzes Volk, eine ganze Religion auszulöschen. Dafür gibt es keine Erklärung, keine Begründung, schon gar keine Rechtfertigung – weder gestern noch heute.
Dafür gibt es nur Trauer und Entsetzen – und Erinnerung, diese gepaart mit dem  Versprechen, dass so etwas nie wieder geschehen darf.
Wenn ich eingangs meiner Rede von einer Kultur des Erinnerns gesprochen haben, dann meine ich damit auch die Erinnerung an Menschen wie Max Rosengart oder Otto Wels. Sie können heute noch Vorbild für uns sein. In schwierigen Zeiten haben sie unter hohem  persönlichem Einsatz – nicht zuletzt ihres eigenen Lebens - Verantwortung übernommen und sind für ihre demokratischen Überzeugungen eingetreten.

Heute gibt es wieder jüdisches Leben in Deutschland und wir haben wieder eine aktive jüdische Gemeinde im Herzen unserer Stadt.
Vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist das eine bemerkenswerte Tatsache.
Heute leben wir miteinander: Christen, Juden und Muslime prägen gemeinsam das Stadtbild.  Heilbronn ist Heimat für Menschen aus allen Winkeln unserer Erde und vieler Religionen. Das Zusammenleben verläuft nicht immer ohne Reibungen, aber es gelingt uns mehr und mehr, eine Kultur des Miteinanders, der Offenheit und Akzeptanz zu schaffen.
Hier sind wir alle stetig gefordert die Gesellschaft jeden Tag ein bisschen besser zu machen. Intoleranz und Rassismus dürfen keinen Platz in unserer Gesellschaft haben.
Nicht zuletzt zeigt uns die Mordserie des NSU, zu was Menschen mitten in Deutschland – im Falle der Ermordung von Michele Kiesewetter mitten in Heilbronn - fähig sind.
Auch 75 Jahre nach der Reichspogromnacht kann kaum eine jüdische Einrichtung – sei es ein Gotteshaus, ein Kulturzentrum oder eine Schule – ohne Bewachung und Polizeischutz auskommen.
Es ist unsere gesellschaftliche Verantwortung und politische Aufgabe, alles dafür zu tun, dass nie wieder Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Glaubens geächtet, verletzt oder gar ermordet werden. Menschenverachtung und Intoleranz gegenüber Menschen, die anders denken oder anders glauben dürfen keinen Platz in unserer Mitte haben.
Deshalb muss der Sumpf, in dem Rassismus und Fremdenhass gedeihen, ausgetrocknet werden. Deshalb muss jedem nationalsozialistischen Gedankengut der politische, gesellschaftliche und auch der finanzielle Boden entzogen werden.
Und deshalb bin ich auch der Meinung, dass die NPD verboten werden muss.
Wir dürfen aber auch den vielfach noch vorhandenen Alltagsrassismus nicht verharmlosen. Judenfeindlichkeit lebt nicht nur im Kopf von Skinheads, sondern auch in bürgerlichen Hirnen – unter gepflegten Frisuren. (Rede Guido Wolf, 07.11.2013)
Populistische Vorurteile sind bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft verbreitet. Da wird zwar der Antisemitismus geächtet, zugleich aber die Antipathie gegenüber Juden gehegt. Nach wie vor gibt es die allseits bekannten Stereotypen: nur 0,2% der Deutschen sind Juden – zugleich sind aber 16,5% der Deutschen der Meinung, dass die Juden zu viel Einfluss auf die Wirtschaft oder die Geldpolitik haben.

Meine Damen und Herren,
lassen Sie uns eintreten für eine demokratische, tolerante und solidarische Gesellschaft, lassen Sie uns eintreten für Freiheit und für Rechtsstaatlichkeit.
Gemeinsam stehen wir heute hier im Angedenken an die Schrecken der Nacht des 09. November vor 75 Jahren.
Gemeinsam wollen wir einstehen für ein weltoffenes, menschliches, buntes Heilbronn – für eine Stadt,  die auf ihre Vielfalt Stolz ist und diese als Chance begreift.
Schließen möchte ich meine Ansprache mit einem Appell von  Charlie Chaplin, aus dem Film der große Diktator, der die von mir formulierten Anliegen in sehr eindrückliche Worte fasst:
„Es tut mir leid aber ich möchte nun mal kein Herrscher der Welt sein, denn das liegt mir nicht. Ich möchte weder herrschen, noch irgendwen erobern, sondern jedem Menschen helfen, wo immer ich kann. Jeder Mensch sollte dem anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt. Wir sollten am Glück des andern teilhaben und nicht einander verabscheuen. Hass und Verachtung bringen uns niemals näher. Lasst uns kämpfen für eine bessere Welt! Lasst uns kämpfen für die Freiheit in der Welt, das ist ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Nieder mit der Unterdrückung, dem Hass und der Intoleranz! Lasst uns kämpfen für eine Welt der Sauberkeit. In der die Vernunft siegt, in der uns Fortschritt und Wissenschaft allen zum Segen reichen. Im Namen der Demokratie: Dafür lasst uns streiten!“
Vielen Dank für das Zuhören.
 

(es gilt das gesprochene Wort)