Die Krankheit, die noch nicht überwunden ist
Wider das Vergessen
Gedenkfeier am 9. November 2005
am Synagogengedenkstein in Heilbronn Ansprache durch   Paul Dieterich, Prälat in Heilbronn

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Sie heute, am 9. November wieder hierher kamen um dessen zu gedenken, was in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 geschehen ist, lassen Sie mich die Gelegenheit nützen, ein Wort zu sagen zum Antisemitismus und besonders dazu, wie er entstanden ist.
Ich will als Mann der Kirche besonders vor der eigenen Tür kehren und danach fragen, inwiefern gewisse in den Kirchen weit verbreitete Haltungen den Antisemitismus der Nationalsozialisten vorbereitet haben.
Es war ein tief eingewurzelter theologischer, ein angeblich christlicher Antijudaismus, an den die Nationalsozialisten mit ihrem Rassefanatismus anknüpfen konnten. Dieser theologische Antijudaismus hat im großen Ganzen mit der Frage nach der ‚Rasse’ eines Menschen nichts zu tun. Es ging um die Frage, wer am Tod Jesu die Schuld habe. Und statt dass Christen sich klar gemacht hätten, dass Jesus Christus gestorben ist, weil die Lieblosigkeit der Menschheit und damit jedes Menschen, auch jedes Christen, ihn zu Tode gebracht hat – das wäre ihm, Jesus, sehr wahrscheinlich in jedem Volk so gegangen, mit Sicherheit auch bei den Germanen - , haben immer wieder Christen gesagt: Die Juden sind schuld. Die Juden haben den Heiland auf dem Gewissen.
Im Grunde ist das der Ausdruck einer tiefen Uneinsichtigkeit im Blick auf die eigene lieblose, gottfremde und menschenfeindliche, selbstgerechte Unart. Es ist nicht weniger als eine Verleugnung des Kerns des christlichen Glaubens, nach welchem Jesus Christus, die Verkörperung der göttlichen Liebe, stirbt, weil wir in unserem Leben die Liebe verraten. Und dass er zum Opfer unserer Lieblosigkeit wird und dieses Opfer bringt, um uns aus diesen lebensfeindlichen Haltungen herauszulösen.
Natürlich konnten dann Menschen, deren Religion vor allem darin besteht, die eigene Art religiös zu verklären, daran anknüpfen. Sie fühlten sich durch diese angeblich christliche Art, die Schuld am Tod Jesu pauschal den Juden zuzuschieben, bestätigt in der eigenen arroganten Überheblichkeit. Auf diese Weise sind dann Bündnisse zwischen Nationalsozialisten und Christen entstanden, sehr unheilige Bündnisse, die das Christsein im Kern verdorben haben.
Dazu kam – psychologisch gesehen – der Hang unsicherer Menschen, den eigenen Wert vor einem ganz negativen Feindbild zu behaupten. Das treffen wir ja oft – und wer ist davon frei? - , dass Menschen sich selbst als wertvoller, als moralisch besser, als kulturell fortentwickelter darstellen, indem sie auf andere Menschen verweisen, die alle diese Vorzüge angeblich nicht haben. Die Unsicherheit in uns, die verdrängten Selbstzweifel in uns verführen uns leicht zu diesem kindischen Verhalten. So entstehen Negativbilder. Und man sucht geradezu nach Bestätigungen dieses Feindbildes, wie einer, der andere schwarz malen will, nicht genug schwarze Farbe finden kann.
Dann kamen alle die Vorwürfe, als würden Juden ihr Geld nur durch Ausbeutung anderer oder durch Betrug verdienen. Als könnten und wollten sie nicht arbeiten. Als würden die hohen Leistungen jüdischer Kultur die deutsche Kultur verderben. Als seien Juden zynisch und geil. Als seien sie drauf und dran, in einer Art Weltverschwörung Juda die Völker zu beherrschen, zu versklaven, wo möglich zu erdrosseln. In Deutschland wurde es dann üblich, alle bedrohlichen Phänomene den Juden anzulasten. Die Urängste der Menschen wurden mobilisiert. Und Hitler konnte seinen Reichsparteitag in Nürnberg halten unter dem Riesentransparent mit der Aufschrift ‚Die Juden sind unser Unglück’.
Auf diese Weise wurde der Hass geschürt gegen das jüdische Volk. Mit ihrer Judenfeindschaft haben auch nicht wenige Christen und Pfarrer sich den entkirchlichten Deutschen empfohlen nach dem Motto: ‚Wenn uns schon nichts wirklich Positives verbindet, dann wenigstens ein kräftiges Feindbild’. Als würde ein gemeinsames Feindbild Menschen für die Kirche gewinnen oder bei der Kirche halten.
Dass so viele sonst ganz aufrechte Deutsche die Gräuel der Reichspogromnacht einfach geschehen ließen, vielleicht mit einem unguten Gefühl, wohl auch mit ein wenig Mitleid, aber doch ohne lauten Protest, das hatte seinen Grund nicht nur in der natürlichen Feigheit, von der ja wohl kein Mensch frei ist – mancher, der hier geschwiegen hat, war in anderen Situationen gar nicht feige – , es kam von dieser tief eingewurzelten Abneigung gegen die Juden, die längst eine Art Feindbild geworden waren.
Und speziell bei Christen kam es auch daher, dass ihnen im Religionsunterricht und in Predigten oft genug gesagt wurde: Die Juden müssen büßen, weil sie Jesus ans Kreuz gebracht haben. Darum muss Ahasver, der ewige Jude, ruhelos, verfolgt, geschlagen auf dieser Erde unterwegs sein bis zum Jüngsten Tag. Man hat schon den Kindern die Auffassung eingeprägt: ‚Die Juden stehen unter einem Fluch. Gott straft sie’.
Wie soll denn ein Christenmensch dem strafenden Gott in den Arm fallen?, mit solchen Gedanken hat mancher Christ, dem die Ereignisse des 9. November 1938 eine schwere innere Last waren, schließlich doch geschwiegen, wo er hätte schreien müssen. Wie oft haben Pfarrer in diesem Zusammenhang das Wort zitiert, das einige fanatisierte Menschen vor dem Justizgebäude des Pilatus gegen Jesus gerufen haben ‚Sein Blut komme über uns und unsre Kinder’. Als würde der Gott, der in Jesus Christus aus Liebe für die schuldigen Menschen ans Kreuz geht, solche Selbstverfluchungen wahr machen.
Sie haben unbewusst oder bewusst alle die Worte in der Bibel überlesen oder unterschlagen, in denen Gottes Treue zu seinem Volk Israel bezeugt wird. Dass er alles, was er diesem Volk zugesagt hat – Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein! – halten will. Dass er sich von dem Volk seiner ersten Liebe nicht distanzieren wird. Dass er sein Volk nicht im Stich lässt.
Ich würde das alles hier nicht so ausführlich darstellen, wenn wir in letzter Zeit nicht schwarz auf weiß in der Zeitung in Leserbriefen gelesen hätten, dass dieser üble angeblich christliche Antijudaismus, der so unheimlich viel Unglück in die Welt gebracht hat, der auch sonst gutwillige Menschen zu schwerem Unrecht verleitet hat und dazu, gegen Mord und Schandtat nicht aufzustehen, dass diese christlich getünchte Judenfeindschaft noch nicht ausgestanden ist. Immer wieder bricht diese Krankheit aus in den verschiedensten Variationen. Jahrzehnte christlich-jüdischen Gesprächs konnten sie nicht ein für alle mal überwinden. ‚Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch’, hat Bert Brecht einmal gesagt.
Dabei könnten wir vieles sagen von klugen und tapferen Menschen, die auch im Dritten Reich ganz entschieden für ihre jüdischen Mitmenschen eingetreten sind. Und es waren nun wirklich auch Christen unter ihnen. Ich denke in diesem Jahr, 60 Jahre nach seinem Tod im KZ Flossenbürg, an Dietrich Bonhoeffer, der schon im Frühjahr 1933 seine Stimme dagegen erhoben hat, dass die Kirche die Juden im Stich lässt. Daran würde es sich entscheiden, ob Kirche noch Kirche sei, dass sie für die Juden eintritt nach dem Wort „Tue deinen Mund auf für die Stummen und tritt ein für die Sache derer, die verloren sind“.

Ich kann berichten von dem Pfarrer von Niederstetten, Hermann Umfried, der, nachdem Heilbronner SA-Schlägertrupps in Niederstetten in den Judenhäusern gewütet und einen jüdischen Mann totgeschlagen hatten, am Tag drauf im Gottesdienst im Namen Gottes gegen diese Untaten protestiert hat. Er hat seine Tapferkeit schwer büßen müssen – man hat ihn isoliert, auch die Kirchenleitung ist ihm in den Rücken gefallen - und ist bald drauf in Verzweiflung von eigener Hand gestorben.

Ich könnte von der Bußtagspredigt des Pfarrers Julius von Jan in Oberlenningen nach dem 9. November 1938 berichten, in der er, was in seinem Ort den Juden angetan wurde, als schlimmes Unrecht verurteilt hat. Mit der Folge, dass ihn SA-Schläger halb tot geschlagen haben.

Und es ist der Erwähnung wert, dass viele unbekannte Menschen, Christen und Nichtchristen, sich unter Lebensgefahr zu ihren jüdischen Mitmenschen gestellt, sie versteckt, ihnen ins Ausland geholfen haben.

Ich kann berichten von großen Aufbrüchen nach 1945 in den Evangelischen Kirchentagen und in den Katholikentagen, in denen zwischen Juden und Christen ein sehr freundschaftlicher und fruchtbarer Dialog gepflegt wurde und vieles, vieles mehr. Wir können dafür nur dankbar sein.

Und auch hier in dieser Stadt dürfen unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger davon ausgehen, dass die Kirchen und gewiss auch die Gewerkschaft sowie alle ‚Menschen guten Willens’ die Gründung ihrer Gemeinde mit großer Sympathie sehen und dass sie gern mit den jüdischen Mitbürgern Gemeinschaft haben. Nicht zuletzt auch im Nachdenken über unsere gemeinsamen Wurzeln und über unseren gemeinsamen Weg. Wir wollen ihnen verlässliche Freunde sein. Wir gehören zusammen, auch dort, wo wir im Verständnis Jesu Christi noch nicht einig sind. Wir haben einen gemeinsamen Weg. Der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs ist auch unser Gott, der mit uns unterwegs ist.

Der 9. November soll uns wieder neu daran erinnern, dass wir vor Gott und den Menschen zusammengehören. Dass wir für einander einstehen wollen. Und dass wir dabei sein wollen, wenn auch in dieser Stadt ‚ein Neues gepflügt’ wird.

(es gilt das gesprochene Wort)