Bürgermeister Harry Mergel, Heilbronn

Gedenkfeier 9. November 2008, 19.15 Uhr, Synagogengedenkstein Allee

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freunde,

die Ungeheuerlichkeit der nationalsozialistischen Verbrechen - und die sich daraus ergebende moralische und politische Verpflichtung - ist Anlass unserer Gedenkveranstaltungen zur Pogromnacht von 1938.

Man muss gar nicht soweit gehen und den 9. November als „Deutschen Schicksalstag“ bezeichnen. Fest steht, dass dieser Tag – wie kein anderer - Wendepunkte in der deutschen Geschichte markiert - dramatische Wendepunkte - die uns alle auch heute im Zeitalter von Globalisierung und Internet, Individualisierung und gesellschaftlicher Zersplitterung noch berühren.
· Am 9. Nov.1848 war die Erschießung Robert Blums der Anfang vom Ende der Revolution in den deutschen Ländern.
· Am 9. Nov.1918, also vor genau 90 Jahren, rief Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstags die erste deutsche  Republik aus – eine unglückliche Republik !
· Am 9. Nov.1923 konnte der Putschversuch der Nationalsozialisten noch verhindert werden.
· Am 9. November1989 schließlich brachte der Fall der Mauer unserem Land die Wiedervereinigung.

Obwohl gerade dieses letzte Datum für kollektive Freude, ungebremste Begeisterung und grenzüberschreitende Rührung wie kein anderer steht, war es weise und konsequent, diesen Tag nicht – wie von vielen gefordert - zum Nationalfeiertag der „Deutschen Einheit“ zu erheben, sondern den 3. Oktober.

Denn, meine Damen und Herren, liebe Freunde – der 9. November 1938 überlagert auch im staatlichen Gedenken bei weitem alle anderen historischen Daten, die ich genannt habe. Scham und Entsetzen sind unsere Empfindungen, wenn wir heute 70 Jahre zurückblicken.
Unter tatkräftiger Unterstützung der Bevölkerung plünderten und zerstörten SS und SA-Angehörige jüdische Läden und Geschäfte, verbrannten und verwüsteten 267 Synagogen (fast alle), verschleppten 30 000 Jüdinnen und Juden, vergewaltigten, misshandelten und verprügelten unzählige von ihnen und ermordeten allein an diesem Tag 91 Menschen.

Die Polizei tolerierte den – von der NS-Presse so titulierten „spontanen Volkszorn“, die Feuerwehr sorgte dafür, dass die Synagogen kontrolliert abbrannten, ohne dass (zitiere)„arisches“ Eigentum beschädigt wurde.
Für die Führung der NSDAP war der 9. November ein Testlauf, wie die Bevölkerung auf den blanken, massenhaft praktizierten antisemitischen Terror reagieren würde.

Für die jüdischen Menschen im Deutschland und Europa war das Novemberpogrom der Übergang von der Entrechtung und Beraubung hin zur physischen Vernichtung.

In den Konzentrationslagern von Ausschwitz und Treblinka, vor den Erschiessungskommandos der Wehrmacht in den Ghettos von Warschau und Riga, in den Dörfern Galiziens, in den Eisenbahnwaggons aus Paris, Rom, Budapest und Saloniki, wurden bis zum 8. Mai 1945 über 6 Mio Jüdinnen und Juden von deutschen Soldaten, Polizisten, SS-Angehörigen und willigen Helfern aus der Zivilbevölkerung ermordet.

Trauer und Wut, oder auch Trauer und Sprachlosigkeit beherrschen uns, wenn wir uns – wieder einmal – vergewissern, dass dieser 9. November der Auftakt zur offenen Judenverfolgung war.

Das einzige Kapitel der Heilbronner NS-Zeit, das bisher – neben dem 4. Dezember – von der Geschichtsschreibung tiefgründig dargestellt wird, ist zugleich der grausamste Ausschnitt dieser Zeit.
Auch hier in Heilbronn hat die Synagoge gebrannt, wurden die einen Mitbürger zu Opfern, die anderen zu Tätern.
Schon in der Einleitung zu seinem 1963 erschienen Buch „Geschichte und Schicksal der Juden in HN“ offenbart Hans Franke, die Tragödie: -zitiere -„Von den 855 Juden, die 1933 in HN und Sontheim gezählt wurden, sind 225 den Verfolgungen zum Opfer gefallen.
Diese jüdischen Mitbürger – so Franke weiter – waren Menschen wie Du und ich, Menschen aus Gottes Hand, von den nämlichen Schwächen, Vorzügen, Leidenschaften und Glücksgefühlen beseelt, bestrebt... Anteil an der deutschen Kultur zu besitzen und vor allem: zu leben ! Hierin liegt die unerbittliche Tragik.“

Stanislaw Lec hat gesagt: Vor der Wirklichkeit kann man die Augen verschließen, aber nicht vor der Erinnerung. Die Überlebeden des Holocaust sind als Zeitzeugen nicht zu ersetzen und niemand sollte dies versuchen. Aber ihrer Sichtweise, ihren Berichten und Erfahrungen gilt es auch weiterhin Gehör zu verschaffen.

Erinnerungsarbeit ist Friedensarbeit. Gedächtnisarbeit muss deshalb auch in Zukunft ein wichtiger Teil der politischen Kultur in unserer Stadt sein.

Angesichts des Geschehenen mutet es heute fast wie ein Wunder an, dass jüdisches Leben in Deutschland, in Heilbronn wieder aufblüht. Und ich erinnere dabei gerne an David Ben Gurion, der  gesagt hat: „Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist.

So ist es Realität, dass sich jüdische Heilbronner wieder in unserer Stadt in einer Synagoge versammeln und ihren Glauben leben können. Dass jüdische und nichtjüdische Heilbronner aufeinander zugehen, zusammenfinden und ihr Verhältnis nicht von den ungeheuerlichen Verbrechen der Nazi-Zeit dominiert wird, sondern vom Wunsch, den Alltag für sich und die Familien zu gestalten.

Dafür dürfen wir dankbar sein. Wir dürfen auch dankbar sein, weil es sich hierbei nicht um Selbstverständlichkeiten handelt. Und aus dieser Dankbarkeit heraus sollte die Erkenntnis wachsen, dass wir in Deutschland, auch in Heilbronn, zu weiteren Anstrengungen aufgefordert sind.

Ist es nicht schockierend, dass nach 1990 mehr als 100 Menschen in Deutschland Opfer rechtsextremer Täter geworden sind, weil sie Ausländer waren oder Obdachlose ?
Ist es nicht eine Schande, dass rechtsextreme Parteien nach einigen Wahlerfolgen wieder Morgenluft wittern und in immerhin vier Länderparlamenten vertreten sind ?
Ist es nicht traurig, dass jüdische Einrichtungen - auch Synagogen von der Polizei und durch Videobeobachtung rund um die Uhr bewacht werden müssen ?
Wer diese Fragen mit „Ja“ beantwortet, der ist aufgerufen, einzutreten für Demokratie und Bürgerrechte, für Toleranz und Zivilcourage.

Jean Paul Sartre schrieb 1944: Solange irgendwo auf der Welt ein Jude um sein Leben fürchten muss, kann kein Franzose seines eigenen Lebens sicher sein.“ Dies gilt nicht nur für Frankreich, dies gilt für jedes Land. Wenn irgendwo unterschieden und selektiert wird, kann sich niemand sicher sein, dass er nicht eines Tages selbst zu den Ausgegrenzten gehört. Deshalb haben wir täglich die Verantwortung, aktiv für Menschenwürde und gegen Rassismus und Ausgrenzung einzutreten.

Lassen Sie uns den 9. November als stete Mahnung begreifen, den Volksverhetzern der heutigen Zeit mutig entgegenzutreten. Setzen wir uns gemeinsam dafür ein, dass Menschen anderen Glaubens, anderer Hautfarbe oder anderer Herkunft in diesem Land nicht diskriminiert werden oder gar um Leib und Leben fürchten müssen.

In Heilbronn leben heute Menschen, die aus mehr als 130 Nationen stammen. Die Integration dieser Neu-Heilbronner – viele sind inzwischen ja längst Alt-Heilbronner – ist eine unserer wichtigsten Zukunftsaufgaben.
Wir müssen noch stärker lernen, uns gegenseitig zu schätzen, den kulturellen Hintergrund des Anderen zu respektieren, für gerechte Bildungs- und Berufschancen sorgen, damit sich unsere Bürgergesellschaft auf dem Boden gemeinsamer Werte und Ideen solidarisch fortentwickeln kann.

Von der Stadtverwaltung sind dazu gerade in den letzten Monaten einige Impulse ausgegangen, vom Integrationsbericht über die neue Integrationsbeauftragte bis zum Integrationsbeirat, der in dieser Woche erstmals tagte.

HN setzt auf eine Stadtpolitik der Toleranz und der Verständigung, auf ein Klima des guten Miteinander. Bei uns sind Menschen anderer Nationalitäten und Kulturen willkommen. Sie sind für uns eine Bereicherung.
Niemand soll in HN Sorge haben müssen, dass er wegen seines Glaubens, seiner Herkunft, seiner Hautfarbe ins Abseits gestellt wird oder gar Schaden an Leib und Leben nimmt.

Intoleranz, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben in unserer Stadt keinen Platz.
Der damalige Bundespräsident Johannes Rau hat es vor fünf Jahren so formuliert: „Wir sind heute hier, weil wir allen sagen und zeigen wollen, wir werden alles dafür tun, dass das niemals mehr geschieht und niemals mehr geschehen kann. Wenn wir das glaubwürdig sagen, dann wird aus dem Tag der Erinnerung und des Schmerzes auch ein Tag der Freude, der Hoffnung und der Zuversicht.“

In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(es gilt das gesprochene Wort)