Ansprache zum 1. September 2011 (Antikriegstag)
Hans-Dieter Wille Prälat i.R
 

Sehr geehrte Frau Ortwein, sehr geehrter Herr Winter, sehr geehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger,
liebe „Friedensfreunde und Friedensfreundinnen“!

Sich mitten in der Urlaubs – und Ferienzeit an den Beginn des 2. Weltkriegs zu erinnern, ist - das wollen wir in aller Nüchternheit konstatieren – für die meisten unserer Mitbürger, auch wenn sie nicht gerade unterwegs sind – alles andere als ein selbstverständliches Ritual.--
Sich erinnern ist freilich nicht moralisch einklagbar. Wir die hier Anwesenden sind deswegen auch keine besseren Menschen, wenn wir dieses Datums besonders gedenken und hierher gekommen sind. Doch auch wenn dieser Tag nicht wie der Volkstrauertag oder der 8. Mai im kollektiven Gedächtnis verankert ist – der 1. September 1939 ist ein Tag von großer historischer Bedeutung, auch deswegen, weil er mehr ist als nur den Beginn eines in seinen Nachwirkungen noch längst nicht bewältigten Kriegs, wie es zuvor in der Weltgeschichte keinen furchtbareren gegeben hat. Dieser Krieg hat vom ersten Tag an gezeigt, dass mit ihm nicht nur wahnhafte politische Ziele verfolgt wurden, sondern systematisch Menschen und Menschengruppen, ein ganzes Volk vernichtet, ausgerottet werden sollten.
Polen sollte – das ist der Geist des Hitler-Stalin-Paktes, der Hitler freie Hand gab - ..Polen sollte von der Landkarte Europas verschwinden. Die besetzten Gebiete waren als Ernährungsgrundlage gedacht für das expandierende deutsche „Volk ohne Raum“. So wollte es die nationalsozialistische Propaganda. Deswegen musste es ein Vernichtungskrieg sein, bei dem alle internationalen Regeln etwa für die Behandlung der Gefangenen und der Zivilbevölkerung bewusst missachtet wurden. Gleich zu Beginn wurden unter Beteiligung der deutschen Wehrmacht polnische Intellektuelle, Priester, Gewerkschaftler, Adlige und vor allem Juden gezielt ermordet. Unvorstellbare Massaker, auch Euthanasiemorde waren in diesem Krieg, der bewusst verharmlosend „Polenfeldzug“ hieß, an der Tagesordnung.
Dahinter stand ein Bild von der slawischen Bevölkerung, das - so zeichnete es die NS-Propaganda – von „einer tiefen Verachtung für die slawische Bevölkerung“ geprägt war und der entsprechenden „Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden“ , das den Menschen zugefügt wurde. So hat es ein Historiker formuliert.
Dieser Krieg lebte von Anfang an von einem Feindbild, das menschenverachtend und erbarmungslos war und dem sich die meisten Deutschen, auch die meisten deutschen Soldaten nur schwer entziehen konnten. Wer sich an den 1. September 1939 erinnert, muss sich auch an diese zum Teil erst Jahrzehnte später aufgedeckten Gräuel dieses Krieges erinnern lassen. Loriot, dieser im Grunde sehr ernsthafte große Humorist, der als junger Offizier den Krieg erlebt hat, sagte – auf diese seine Lebensphase angesprochen: er schäme sich, dass er und seine Altersgenossen im Sinne des Regimes so gut funktioniert hätten.
Ich erwähne das alles - nicht, um Wunden aufzureißen. Ich erwähne es, weil der Krieg, dieser Krieg nicht nur aus der Statistik über das Ausmaß der Zerstörungen, aus Zahlen von Toten und Verletzten besteht. Als könnten solche Statistiken und Beschreibungen, wie sie zum Krieg üblicherweise dazugehören, erzählen von dem unbeschreiblichen Leiden, auch von dem unbeschreiblichen und dem nicht weniger schrecklichen Bedürfnis nach Vergeltung, wie es dann die Deutschen in den ehemaligen Ostgebieten vor allem nach dem Krieg erlebt haben.
Leiden lässt sich aber nicht aufrechnen, schon gar nicht in Zahlen und Statistiken. Aber dieses Leiden hatte einen Anfang. Es begann nicht erst am 1. September 1939, sondern schon am 30 Januar 1933, an dem die nationalsozialistische Gewaltherrschaft ihren Anfang nahm.
Es geschah auf jeden Fall im deutschen Namen. Das verbindet uns alle mit dieser Geschichte. Sie ist Teil unserer Herkunft, die wir nicht einfach ignorieren können.
„Erinnern heißt“ , so hat es einmal der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker ausgedrückt, „erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zum Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.. Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen… “ Soweit Richard v. Weizsäcker.
So anspruchsvoll, ja so schwierig dieser Gedanke der Haftung ist, vor allem für die ist, die in den Jahren der Naziherrschaft noch Kinder und Jugendliche waren, auch für diejenigen, die wie meine Generation nach 1945 geboren sind, so wenig können wir Deutsche, welchen Alters wir auch sind, gewissermaßen aus unserer deutschen Geschichte aussteigen und so tun, als ginge sie uns nichts an - und diese Geschichte bestenfalls den Historikern und Archivaren überlassen.
Sicher: Gedenkveranstaltungen wie diese lassen sich nicht verordnen. Und Sich - Erinnern können wir nicht einmal zur Pflicht erheben.
Doch wer sich erinnert und erinnern will, tut das letztlich eigenen Interesse. So gehört die Erinnerung für das jüdische Volk, das am meisten unter der Naziherrschaft gelitten hat, zum Wesen ihres Glaubens, zum Wesen des jüdischen Selbstverständnisses. „ Das Vergessenwollen verlängert das Exil, aber das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Diese oft zitierte jüdische Glaubensweisheit heißt doch im Grunde:
Wenn wir aufhören, uns zu erinnern, auch an diese bitteren Wahrheiten unserer Geschichte, auch an das, was wir zwar nicht persönlich zu verantworten haben, was uns aber als Deutsche im Grunde tief beschämen muss-, wenn wir aufhören wollten, uns auch daran zu erinnern, werden wir – das meint dieser jüdische Spruch – letztlich heimatlos. Erinnern geschieht also um unserer selbst willen.
Nur wer sich erinnern kann, nur wer sich auch an das erinnern kann und erinnern will, was weh tut und immer wieder auf´s Neue schmerzt, auch an einem solchen Antikriegstag -, nur der kann vom Ungeist des Krieges, vom Ungeist der Menschenverachtung, vom Ungeist des Rassismus und des Ressentiments gegenüber dem Anderen, dem Fremden, befreit, „erlöst“ werden. Deswegen, weil ihm bewusst ist, welch unvorstellbare Leiden der Krieg mit sich führt, welche Wunden geschlagen werden durch Verachtung und Hass gegenüber bestimmten Völkern und Menschengruppen, Wunden, die in das Gedächtnis von Generationen eingegraben sind und nur schwer heilen.
Auch die Heilbronner haben tief in ihr Gedächtnis eingegrabene Kriegswunde, die weiter schmerzt und –so möchte ich fast sagen: vielleicht weiter schmerzen muss.
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So können wir gar nicht anders, als dessen zu gedenken, was im Namen des deutschen Volkes anderen Völkern angetan wurde, was Frauen, Kinder und Männer Qualvolles erleben mussten und was dem deutschen Volk dann selber, was Millionen Deutschen durch den Krieg, durch Vertreibung und Verlust der Heimat an Leid widerfahren ist. Bei manchen der Älteren unter uns werden Bilder der eigenen Geschichte auftauchen, Schreckensbilder von Hunger und Flucht, von Tod und Zerstörung. Vor allem ist es die Erinnerung an den Verlust eines lieben Menschen. Leiden – so haben wir gesagt - lässt sich nicht gegen Leiden aufrechnen. Das wäre respektlos, das wäre eine unwürdige Haltung gegenüber den Opfern, gegenüber allen Leidtragenden. Aber das Leiden hat eine Ursache. Und an diese Ursache müssen wir heute am 1. September denken.
Jede Generation muss sich mit diesen dunklen 12 Jahren deutscher Geschichte und ihren Folgen beschäftigen und fragen, was diese Beschäftigung für die eigene Überzeugung bedeutet, was es für jeden persönlich, vor allem für die Gestaltung unsrer demokratischen Gesellschaft in Freiheit und Verantwortung bedeutet. Wo die schlimmen Erfahrungen in der Geschichte eines Volkes nicht verdrängt werden müssen, sondern dazu gehören können – wie die Narbe, die nie ganz verheilt und doch Teil unseres Körpers bleibt, wo solches Erinnern in Scham und in Trauer möglich wird, da können die
Bürger und Bürgerinnen dieses Landes, die Bürger und Bürgerinnen dieser Stadt ehrlich, wahrhaftig bleiben. Da bleiben wir als deutsches Volk unserer eigenen Geschichte gegenüber ehrlich und wahrhaftig und so für die anderen Völker glaubwürdig. Da bleiben wir ein Volk, dem andere Völker vertrauen können.
Erinnern heißt nicht alte Wunden und alte Gräben wieder aufreißen. Aber es kann heißen, über die große Wunde unsrer deutschen Geschichte nicht einfach schönrednerisch hinweg zu gehen und zu sagen: Irgendwann muss doch einmal genug sein.
Wo wir dieser Versuchung widerstehen, kann es geschehen, dass wir durch solches bewusste Erinnern reif werden, dass wir in unserer Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit wachsen. - 65 Millionen Tote durch die beiden Weltkriege; weit über 25 Millionen Tote durch die sog. kleineren oder größeren Kriege seither. Unvorstellbare Zahlen. Unvorstellbares persönliches Leid und Elend.
Wir denken an die toten Soldaten, die in Afghanistan getötet wurden. Wir denken an die Menschen, die dort einen ihrer nächsten Angehörigen verloren haben. Wir denken an ihr Leid und ihre Trauer. Wir denken an die Soldaten, die auch in dieser Stunde dort ihr Leben riskieren.
Wir denken aber auch an die Politiker und Politikerinnen, die diesen Kriegseinsatz mit verantworten und uns Bürgern und Bürgerinnen immer wieder neu vermitteln müssen, wem dieser letztlich Einsatz dient und warum dieser hohe Preis notwendig ist.
Die gutgemeinten Überzeugungen von gestern, die wir den politisch Verantwortlichen einmal unterstellen sollten, die sie – auch im Namen des deutschen Volkes – meinten damals vertreten zu müssen, müssen heute – angesichts der veränderten Lage – nicht mehr dieselben sein. Auch wer vor Jahren im Bewusstsein großer Verantwortung für den militärischen Einsatz in Afghanistan plädiert hat, kann heute mit der gleichen Verantwortung sagen:
Es ist genug!
Die Frage, die gerade heute an diesem Antikriegstag stellt, heißt doch: Was dient dem Frieden und was nicht? - Dieser Tag ist ein Tag der Mahnung und des Gedenkens. Aber eigentlich ist es unmöglich, der Toten millionenfach zu gedenken. Ein solches Gedenken ist eigentlich zu viel. Auch was Krieg ist, erfahren wir am besten durch die Erzählungen und Berichte der unmittelbar Betroffenen; aus Kriegstagebüchern, in denen Soldaten den Krieg in seiner ganzen Brutalität schildern. Durch die Erzählungen von Frauen, die plötzlich mit der Todesnachricht konfrontiert wurden. Nur so beginnt Geschichte zu uns zu sprechen, nur so bekommt auch ein solcher Gedenktag Tiefe.
Wir können nicht zur Erinnerung gezwungen werden. Aber wir können uns öffnen für die Erfahrungen von Menschen, für die der Krieg, für die Verfolgung, Vertreibung und Flucht ein wesentlicher Teil ihrer eigenen Geschichte geworden sind.
Die Erinnerung wird so zu einer Form des Anteilnehmens, der Anteilnahme an einer Geschichte, die eigentlich nie „bewältigt“ werden kann. Wir können nicht anders: wir müssen diese Wunde offen halten. Um unserer selbst willen! Wir haben es ja am eigenen Leibe erfahren: Nur der nicht verdrängte Schmerz kann geheilt werden. Nur wer sich seiner Scham nicht schämt, kann sich und anderen wieder ins Gesicht sehen und dadurch Sinn für sein Leben erfahren.
Dass solches Erinnern möglich ist, dafür steht in unseren Kirchen das Kreuz. Das Kreuz: Zeichen für eine Welt, die nach Frieden und Versöhnung geradezu schreit, eine Welt, die aber – auch dafür steht dieses Zeichen – die Hoffnung auf eine am Ende versöhnte und befriedete Völker, auf versöhnte und befriedete Menschen nicht aufgeben muss.
Denn Frieden ist möglich. Versöhnung ist möglich. Auch das steht über diesem Tag. Dafür gibt auch in Heilbronn ermutigende Signale, Partnerschaften, Freundschaften. Mit Menschen und Völkern, die für frühere Generationen nur Feinde sein durften. Auch das Thema „Integration“ ist ein Friedensthema von besonderer Bedeutung – und geht uns alle an. Ressentiments und Vorurteile gegenüber den Fremden, gegenüber Menschen mit einer fremden Religion, aber auch eine falsche Toleranz dem nicht Tolerierbaren gegenüber sind keine Wege des Friedens. Und europäische Verständigung findet nicht nur auf Konferenzen statt, sondern muss – wie es ja hier in Heilbronn auch geschieht – im alltäglichen Zusammensein gelebt werden.

Von Günter Eich stammen die Worte:
„Wir wollen nicht, dass die Gräber eingeebnet werden, die Mahnungen der Kreuze in den Wind verweht, weggespült vom Regen die Last des Schmerzes.
Wir wollen, dass nicht um Helden, sondern um Söhne getrauert wird, dass nicht die tönenden Vokabeln aufbewahrt werden für den nächsten Gebrauch, dass nicht Vergessen eingesetzt wird in eine neue Rechnung des Grauens.“

So gedenken wir heute der Soldaten, die in den Weltkriegen starben.
Wir gedenken der Kinder, Frauen und Männer aller Völker,
die durch Kriegshandlungen, in Gefangenschaften, als Vertriebene und
Flüchtlinge ihr Leben bedroht sehen.
Wir gedenken der Opfer.
Wir gedenken auch der Täter, die oft nicht wussten, was sie taten.
Wir gedenken der Menschen, die verfolgt, gequält und ermordet wurden,
weil sie einem anderen Volk angehörten,
die umgebracht wurden wegen ihrer Rasse, wegen ihrer Religion, wegen
ihrer ethnischen Zugehörigkeit.
Wir trauern um die Opfer von Krieg in unseren Tagen,
um die Opfer von Terrorismus und Gewalt.
Und wir beten zu Gott, dass er uns in unseren persönlichen und
politischen Beziehungen die Fähigkeit zum Frieden und zur Versöhnung,
erhält, die Fähigkeit zur ausgestreckten Hand, die sich nicht zur Faust
ballen muss.
Darum bitten wir um den Mut zum Frieden, zu einem Frieden, der die
Wahrheit nicht scheut: um Frieden in unseren Familien, in unseren Schulen,
in dieser Stadt.

(es gilt das gesprochene Wort)