Sehr geehrte Frau Ortwein, sehr geehrter
Herr Winter, sehr geehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger,
liebe „Friedensfreunde und Friedensfreundinnen“!
Sich mitten in der Urlaubs – und
Ferienzeit an den Beginn des 2. Weltkriegs zu erinnern, ist - das wollen
wir in aller Nüchternheit konstatieren – für die meisten unserer
Mitbürger, auch wenn sie nicht gerade unterwegs sind – alles andere
als ein selbstverständliches Ritual.--
Sich erinnern ist freilich nicht
moralisch einklagbar. Wir die hier Anwesenden sind deswegen auch keine
besseren Menschen, wenn wir dieses Datums besonders gedenken und hierher
gekommen sind. Doch auch wenn dieser Tag nicht wie der Volkstrauertag oder
der 8. Mai im kollektiven Gedächtnis verankert ist – der 1. September
1939 ist ein Tag von großer historischer Bedeutung, auch deswegen,
weil er mehr ist als nur den Beginn eines in seinen Nachwirkungen noch
längst nicht bewältigten Kriegs, wie es zuvor in der Weltgeschichte
keinen furchtbareren gegeben hat. Dieser Krieg hat vom ersten Tag an gezeigt,
dass mit ihm nicht nur wahnhafte politische Ziele verfolgt wurden, sondern
systematisch Menschen und Menschengruppen, ein ganzes Volk vernichtet,
ausgerottet werden sollten.
Polen sollte – das ist der Geist
des Hitler-Stalin-Paktes, der Hitler freie Hand gab - ..Polen sollte von
der Landkarte Europas verschwinden. Die besetzten Gebiete waren als Ernährungsgrundlage
gedacht für das expandierende deutsche „Volk ohne Raum“. So wollte
es die nationalsozialistische Propaganda. Deswegen musste es ein Vernichtungskrieg
sein, bei dem alle internationalen Regeln etwa für die Behandlung
der Gefangenen und der Zivilbevölkerung bewusst missachtet wurden.
Gleich zu Beginn wurden unter Beteiligung der deutschen Wehrmacht polnische
Intellektuelle, Priester, Gewerkschaftler, Adlige und vor allem Juden gezielt
ermordet. Unvorstellbare Massaker, auch Euthanasiemorde waren in diesem
Krieg, der bewusst verharmlosend „Polenfeldzug“ hieß, an der Tagesordnung.
Dahinter stand ein Bild von der
slawischen Bevölkerung, das - so zeichnete es die NS-Propaganda –
von „einer tiefen Verachtung für die slawische Bevölkerung“ geprägt
war und der entsprechenden „Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden“
, das den Menschen zugefügt wurde. So hat es ein Historiker formuliert.
Dieser Krieg lebte von Anfang an
von einem Feindbild, das menschenverachtend und erbarmungslos war und dem
sich die meisten Deutschen, auch die meisten deutschen Soldaten nur schwer
entziehen konnten. Wer sich an den 1. September 1939 erinnert, muss sich
auch an diese zum Teil erst Jahrzehnte später aufgedeckten Gräuel
dieses Krieges erinnern lassen. Loriot, dieser im Grunde sehr ernsthafte
große Humorist, der als junger Offizier den Krieg erlebt hat, sagte
– auf diese seine Lebensphase angesprochen: er schäme sich, dass er
und seine Altersgenossen im Sinne des Regimes so gut funktioniert hätten.
Ich erwähne das alles - nicht,
um Wunden aufzureißen. Ich erwähne es, weil der Krieg, dieser
Krieg nicht nur aus der Statistik über das Ausmaß der Zerstörungen,
aus Zahlen von Toten und Verletzten besteht. Als könnten solche Statistiken
und Beschreibungen, wie sie zum Krieg üblicherweise dazugehören,
erzählen von dem unbeschreiblichen Leiden, auch von dem unbeschreiblichen
und dem nicht weniger schrecklichen Bedürfnis nach Vergeltung, wie
es dann die Deutschen
in den ehemaligen Ostgebieten vor allem nach dem
Krieg erlebt haben.
Leiden lässt sich aber nicht
aufrechnen, schon gar nicht in Zahlen und Statistiken. Aber dieses Leiden
hatte einen Anfang. Es begann nicht erst am 1. September 1939, sondern
schon am 30 Januar 1933, an dem die nationalsozialistische Gewaltherrschaft
ihren Anfang nahm.
Es geschah auf jeden Fall im deutschen
Namen. Das verbindet uns alle mit dieser Geschichte. Sie ist Teil unserer
Herkunft, die wir nicht einfach ignorieren können.
„Erinnern heißt“ , so hat
es einmal der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker
ausgedrückt, „erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und
rein zu gedenken, dass es zum Teil des eigenen Innern wird. Das stellt
große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.. Wir alle, ob schuldig
oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir
alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen…
“ Soweit Richard v. Weizsäcker.
So anspruchsvoll, ja so schwierig
dieser Gedanke der Haftung ist, vor allem für die ist, die in den
Jahren der Naziherrschaft noch Kinder und Jugendliche waren, auch für
diejenigen, die wie meine Generation nach 1945 geboren sind, so wenig können
wir Deutsche, welchen Alters wir auch sind, gewissermaßen aus unserer
deutschen Geschichte aussteigen und so tun, als ginge sie uns nichts an
- und diese Geschichte bestenfalls den Historikern und Archivaren überlassen.
Sicher: Gedenkveranstaltungen wie
diese lassen sich nicht verordnen. Und Sich - Erinnern können wir
nicht einmal zur Pflicht erheben.
Doch wer sich erinnert und erinnern
will, tut das letztlich eigenen Interesse. So gehört die Erinnerung
für das jüdische Volk, das am meisten unter der Naziherrschaft
gelitten hat, zum Wesen ihres Glaubens, zum Wesen des jüdischen Selbstverständnisses.
„ Das Vergessenwollen verlängert das Exil, aber das Geheimnis der
Erlösung heißt Erinnerung.“ Diese oft zitierte jüdische
Glaubensweisheit heißt doch im Grunde:
Wenn wir aufhören, uns zu erinnern,
auch an diese bitteren Wahrheiten unserer Geschichte, auch an das, was
wir zwar nicht persönlich zu verantworten haben, was uns aber als
Deutsche im Grunde tief beschämen muss-, wenn wir aufhören wollten,
uns auch daran zu erinnern, werden wir – das meint dieser jüdische
Spruch – letztlich heimatlos. Erinnern geschieht also um unserer selbst
willen.
Nur wer sich erinnern kann, nur
wer sich auch an das erinnern kann und erinnern will, was weh tut und immer
wieder auf´s Neue schmerzt, auch an einem solchen Antikriegstag -,
nur der kann vom Ungeist des Krieges, vom Ungeist der Menschenverachtung,
vom Ungeist des Rassismus und des Ressentiments gegenüber dem Anderen,
dem Fremden, befreit, „erlöst“ werden. Deswegen, weil ihm bewusst
ist, welch unvorstellbare Leiden der Krieg mit sich führt, welche
Wunden geschlagen werden durch Verachtung und Hass gegenüber bestimmten
Völkern und Menschengruppen, Wunden, die in das Gedächtnis von
Generationen eingegraben sind und nur schwer heilen.
Auch die Heilbronner haben tief
in ihr Gedächtnis eingegrabene Kriegswunde, die weiter schmerzt und
–so möchte ich fast sagen: vielleicht weiter schmerzen muss.
.
So können wir gar nicht anders,
als dessen zu gedenken, was im Namen des deutschen Volkes anderen Völkern
angetan wurde, was Frauen, Kinder und Männer Qualvolles erleben mussten
und was dem deutschen Volk dann selber, was Millionen Deutschen durch den
Krieg, durch Vertreibung und Verlust der Heimat an Leid widerfahren ist.
Bei manchen der Älteren unter uns werden Bilder der eigenen Geschichte
auftauchen, Schreckensbilder von Hunger und Flucht, von Tod und Zerstörung.
Vor allem ist es die Erinnerung an den Verlust eines lieben Menschen. Leiden
– so haben wir gesagt - lässt sich nicht gegen Leiden aufrechnen.
Das wäre respektlos, das wäre eine unwürdige Haltung gegenüber
den Opfern, gegenüber allen Leidtragenden. Aber das Leiden hat eine
Ursache. Und an diese Ursache müssen wir heute am 1. September denken.
Jede Generation muss sich mit diesen
dunklen 12 Jahren deutscher Geschichte und ihren Folgen beschäftigen
und fragen, was diese Beschäftigung für die eigene Überzeugung
bedeutet, was es für jeden persönlich, vor allem für die
Gestaltung unsrer demokratischen Gesellschaft in Freiheit und Verantwortung
bedeutet. Wo die schlimmen Erfahrungen in der Geschichte eines Volkes nicht
verdrängt werden müssen, sondern dazu gehören können
– wie die Narbe, die nie ganz verheilt und doch Teil unseres Körpers
bleibt, wo solches Erinnern in Scham und in Trauer möglich wird, da
können die
Bürger und Bürgerinnen
dieses Landes, die Bürger und Bürgerinnen dieser Stadt ehrlich,
wahrhaftig bleiben. Da bleiben wir als deutsches Volk unserer eigenen Geschichte
gegenüber ehrlich und wahrhaftig und so für die anderen Völker
glaubwürdig. Da bleiben wir ein Volk, dem andere Völker vertrauen
können.
Erinnern heißt nicht alte
Wunden und alte Gräben wieder aufreißen. Aber es kann heißen,
über die große Wunde unsrer deutschen Geschichte nicht einfach
schönrednerisch hinweg zu gehen und zu sagen: Irgendwann muss doch
einmal genug sein.
Wo wir dieser Versuchung widerstehen,
kann es geschehen, dass wir durch solches bewusste Erinnern reif werden,
dass wir in unserer Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit wachsen. -
65 Millionen Tote durch die beiden Weltkriege; weit über 25 Millionen
Tote durch die sog. kleineren oder größeren Kriege seither.
Unvorstellbare Zahlen. Unvorstellbares persönliches Leid und Elend.
Wir denken an die toten Soldaten,
die in Afghanistan getötet wurden. Wir denken an die Menschen, die
dort einen ihrer nächsten Angehörigen verloren haben. Wir denken
an ihr Leid und ihre Trauer. Wir denken an die Soldaten, die auch in dieser
Stunde dort ihr Leben riskieren.
Wir denken aber auch an die Politiker
und Politikerinnen, die diesen Kriegseinsatz mit verantworten und uns Bürgern
und Bürgerinnen immer wieder neu vermitteln müssen, wem dieser
letztlich Einsatz dient und warum dieser hohe Preis notwendig ist.
Die gutgemeinten Überzeugungen
von gestern, die wir den politisch Verantwortlichen einmal unterstellen
sollten, die sie – auch im Namen des deutschen Volkes – meinten damals
vertreten zu müssen, müssen heute – angesichts der veränderten
Lage – nicht mehr dieselben sein. Auch wer vor Jahren im Bewusstsein großer
Verantwortung für den militärischen Einsatz in Afghanistan plädiert
hat, kann heute mit der gleichen Verantwortung sagen:
Es ist genug!
Die Frage, die gerade heute an diesem
Antikriegstag stellt, heißt doch: Was dient dem Frieden und was nicht?
- Dieser Tag ist ein Tag der Mahnung und des Gedenkens. Aber eigentlich
ist es unmöglich, der Toten millionenfach zu gedenken. Ein solches
Gedenken ist eigentlich zu viel. Auch was Krieg ist, erfahren wir am besten
durch die Erzählungen und Berichte der unmittelbar Betroffenen; aus
Kriegstagebüchern, in denen Soldaten den Krieg in seiner ganzen Brutalität
schildern. Durch die Erzählungen von Frauen, die plötzlich mit
der Todesnachricht konfrontiert wurden. Nur so beginnt Geschichte zu uns
zu sprechen, nur so bekommt auch ein solcher Gedenktag Tiefe.
Wir können nicht zur Erinnerung
gezwungen werden. Aber wir können uns öffnen für die Erfahrungen
von Menschen, für die der Krieg, für die Verfolgung, Vertreibung
und Flucht ein wesentlicher Teil ihrer eigenen Geschichte geworden sind.
Die Erinnerung wird so zu einer
Form des Anteilnehmens, der Anteilnahme an einer Geschichte, die eigentlich
nie „bewältigt“ werden kann. Wir können nicht anders: wir müssen
diese Wunde offen halten. Um unserer selbst willen! Wir haben es ja am
eigenen Leibe erfahren: Nur der nicht verdrängte Schmerz kann geheilt
werden. Nur wer sich seiner Scham nicht schämt, kann sich und anderen
wieder ins Gesicht sehen und dadurch Sinn für sein Leben erfahren.
Dass solches Erinnern möglich
ist, dafür steht in unseren Kirchen das Kreuz. Das Kreuz: Zeichen
für eine Welt, die nach Frieden und Versöhnung geradezu schreit,
eine Welt, die aber – auch dafür steht dieses Zeichen – die Hoffnung
auf eine am Ende versöhnte und befriedete Völker, auf versöhnte
und befriedete Menschen nicht aufgeben muss.
Denn Frieden ist möglich. Versöhnung
ist möglich. Auch das steht über diesem Tag. Dafür gibt
auch in Heilbronn ermutigende Signale, Partnerschaften, Freundschaften.
Mit Menschen und Völkern, die für frühere Generationen nur
Feinde sein durften. Auch das Thema „Integration“ ist ein Friedensthema
von besonderer Bedeutung – und geht uns alle an. Ressentiments und Vorurteile
gegenüber den Fremden, gegenüber Menschen mit einer fremden Religion,
aber auch eine falsche Toleranz dem nicht Tolerierbaren gegenüber
sind keine Wege des Friedens. Und europäische Verständigung findet
nicht nur auf Konferenzen statt, sondern muss – wie es ja hier in Heilbronn
auch geschieht – im alltäglichen Zusammensein gelebt werden.
Von Günter Eich stammen die
Worte:
„Wir wollen nicht, dass die Gräber
eingeebnet werden, die Mahnungen der Kreuze in den Wind verweht, weggespült
vom Regen die Last des Schmerzes.
Wir wollen, dass nicht um Helden,
sondern um Söhne getrauert wird, dass nicht die tönenden Vokabeln
aufbewahrt werden für den nächsten Gebrauch, dass nicht Vergessen
eingesetzt wird in eine neue Rechnung des Grauens.“
So gedenken wir heute der Soldaten,
die in den Weltkriegen starben.
Wir gedenken der Kinder, Frauen
und Männer aller Völker,
die durch Kriegshandlungen, in Gefangenschaften,
als Vertriebene und
Flüchtlinge ihr Leben bedroht
sehen.
Wir gedenken der Opfer.
Wir gedenken auch der Täter,
die oft nicht wussten, was sie taten.
Wir gedenken der Menschen, die verfolgt,
gequält und ermordet wurden,
weil sie einem anderen Volk angehörten,
die umgebracht wurden wegen ihrer
Rasse, wegen ihrer Religion, wegen
ihrer ethnischen Zugehörigkeit.
Wir trauern um die Opfer von Krieg
in unseren Tagen,
um die Opfer von Terrorismus und
Gewalt.
Und wir beten zu Gott, dass er uns
in unseren persönlichen und
politischen Beziehungen die Fähigkeit
zum Frieden und zur Versöhnung,
erhält, die Fähigkeit
zur ausgestreckten Hand, die sich nicht zur Faust
ballen muss.
Darum bitten wir um den Mut zum
Frieden, zu einem Frieden, der die
Wahrheit nicht scheut: um Frieden
in unseren Familien, in unseren Schulen,
in dieser Stadt.
(es gilt das gesprochene Wort)