Rede auf der Gedenkveranstaltung
der VVN, Kreis Heilbronn,
am 7. Nov. 2004 auf dem
KZ-Friedhof Kochendorf in Amorbach
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir sind hier und heute zusammengekommen,
um an drei Dinge zu erinnern:
vor 60 Jahren wurde unsere Region Teil
des faschistischen KZ-Systems, indem man die „Neckarlager“ eingerichtete;
diese Gedenkfeier der Vereinigung der
Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten findet heute statt,
weil mit dem Datum 9. Nov. 1938 ein Kristallisationspunkt der Unmenschlichkeit
benannt ist, die während der Jahre 1930 bis 1950 Europa in Schrecken
und Leid versetzte und
wir verneigen uns auf diesem Friedhof
vor den Menschen, die im KZ Kochendorf zu Tode gebracht wurden.
1. vor 60 Jahren war nicht zu übersehen,
dass Deutschland den Krieg nicht mehr gewinnen konnte. Als im Juli 1944
selbst in den Militärs der Widerstand offenbar wurde, der sich in
der bürgerlichen Elite schon seit der Kriegswende in Stalingrad (Winter
1942/43) formiert hatte, glaubten die Machthaber noch, sich behaupten zu
können, wenn sie die Propagandamaschine und die Rüstungsindustrie
zu noch höheren Leistungen antreiben würden. Im Spätherbst
1944 produzierten Rüstungsfirmen aus ganz Deutschland in unserer Region
Teile der „Wunderwaffen“, die den „Endsieg“ bringen sollten. Im Gipsstollen
von Obrigheim Motoren von Daimler-Benz für Flugzeuge, die jedoch nichts
mehr gegen die täglichen Bombardierungen deutscher Städte bewirkten.
In dem heutigen Bundeswehrstollen von Neckarzimmern Kugellager, damit z.B.
Panzer weiter rollen konnten. In Siegelsbach bestückte man die „Vernichtungsraketen“
(Kürzel V 1 und V 2) mit Sprengstoff. Im Salzbergwerk von Kochendorf
produzierte man Teile des neu entwickelten Düsenantriebs für
Jagdflugzeuge. Dazu verschleppte man etwa 15.000 Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen
in unsere Region. Aber vorher noch – um diese Fabriken überhaupt hierher
aufs flache Land verlagern zu können und sie so vor den Bomben der
Alliierten zu schützen – zwang man KZ Häftlinge, ihre letzten
Kraftreserven dafür zu verausgaben, die Stollen für die Rüstungsproduktion
herzurichten. 700 Meter von hier war ein Zwangsarbeiterlager, 500 m von
hier im Tal unterhalb dieses Friedhofs war das KZ. An beide muss erinnert
werden, wenngleich unser Augenmerk bislang mehr den Häftlingen galt.
Wenn wir zusammenzählen, wie viele Menschen in den Konzentrationslagern
von Kochendorf, Neckarelz und seinen Nebenlagern sowie Neckargartach vor
60 Jahren waren, dürften es etwa 5000 gewesen sein. Wenn wir die Zahlen
zu errechnen versuchen, wie viele KZ-Häftlinge im Verlauf des letzten
Kriegsjahres durch die Region geschleust wurden, dürften es etwa 10.000
gewesen sein. Sie galten nicht als Menschen, sondern wurden als Mittel
betrachtet, das einzusetzen sei. Der Zivilbevölkerung sagte man, es
seien Verbrecher und allzu gern gingen die Deutschen über die „Zebras“
hinweg, rechtfertigten ihr Mitläufertum mit den Zeitumständen.
Die KZ-Häftlinge waren nicht nur
ausgemergelt, mit Lumpen bekleidet und in verlauste, überfüllte
Baracken gepfercht. Sie wurden unter Schlägen zu 12-stündiger
Schwerstarbeit getrieben, in der sie ohne maschinelle Hilfen Tunnel auszuschürfen
hatten – unter ständiger Todesdrohung, denn programmatisch benannte
die SS ihren Einsatz als „Arbeit zum Tode“. Der Überlebenswille des
einzelnen unterstützte in diesen Umständen längst nicht
die Solidarität zwischen den Geknechteten. Hoch anzurechnen ist die
Charakterstärke von Häftlingen, die sich nicht korrumpieren ließen.
Etliche aber wurden zu Mittätern und ohne die SS-loyalen Kapos wäre
das KZ-System nicht aufrecht zu erhalten gewesen.
2. Lassen Sie uns aber über die Ausleger
des Terrorsystem KZ in unserer Region hinaus heute auch an die 12 „dunklen
Jahre“ denken, die ich in die zwanzig Jahre zwischen dem Zusammenbruch
des Kapitalmarktes im Oktober 1929 und der Neugründung der Staaten
BRD und DDR 1950 eingebunden sehe.
Die Reichspogromnacht 1938 wird
öffentlich wahrgenommen für den radikalen Antisemitismus. Unbestritten
sind die Elemente: Jahrhunderte lang war er vorbereitet, die Ankündigungen
in Hitlers Reden und die SA-Aktivitäten von 1933, die Rassen-Gesetzgebung
von 1935. Bezweifelt wird aber, ob ein Automatismus zum industriell organisierten
Völkermord in den Vernichtungs-KZ führte. Nicht gesehen wird
häufig, dass sich der nationalsozialistische Rassismus nicht nur gegen
Juden richtete.
Mir scheint es nötig, in dieser Gedenkstunde
auf diese Komplexität hinzuweisen: jedes autoritäre Regime findet
seine Wege, die von ihm als „gemeinschaftsschädigend“ denunzierten
Menschen auszusondern. Darum spreche ich nicht von „wehret den Anfängen“,
denn 10 % Stimmenanteil von Rechtsparteien in einer Landtagswahl zeigen
doch viel mehr die Gefahr, die „aus der Mitte der Gesellschaft“ kommt.
Wiewohl es fraglich sein mag, aus der Geschichte zu lernen, müsste
doch gefolgert werden, dass jegweder Ausschluss von Menschen aus der Gemeinschaft
ein prinzipiell inhumaner Akt ist. Rassismus ist in dieser Perspektive
nur die Spitze eines Eisberges, der in den 80 % unter der Wasseroberfläche
schwimmenden Masse die Fremdenfeindlichkeit, die Missachtung von Zuwanderern
und Flüchtlingen, das nicht respektieren von fremden Kulturen und
anderen Religionen, aber auch die Skepsis gegen Sozialhilfeempfänger,
die Vorwürfe gegen Arbeitslose und die Verurteilung von nicht angepassten
Lebenshaltungen mit sich führt.
Wenn vor 65 Jahren der Wahn zur deutschen
Arbeit alle Menschen diskriminierte, die nicht dieser Volksgemeinschaftsideologie
folgten, so sollten wir die uns heute bestimmenden unhinterfragten Selbstverständlichkeiten
auf den Prüfstand der Menschenwürde stellen.
3. Mit diesem Friedhof schuf man nach dem
2. Weltkrieg eine Stätte für Tote, die während des Bestehens
vom KZ Kochendorf starben und in verschiedenen Massengräbern verscharrt
wurden. Dieser Gedenkort steht in der Reihe mit dem in Neckargartach und
in Binau. Letzterer verdeutlicht den Kontext des Völkermords mit dem
Tot von KZ-Häftlingen, denn die Nazis nutzten dort einen überflüssig
gemachten jüdischen Friedhof, um die Toten eines Rüstungsverlagerungsprojektes
zu entsorgen. Gegenüber diesem Zynismus weist uns der KZ Friedhof
in Neckargartach und der hiesige auf eine Hoffnung hin: Überlebende
schufen oft gegen den Zeitgeist für die Toten ein Mahnmal.
Nach groben Schätzungen überlebten
etwa 10 % die Lagern für ZwangsarbeiterInnen und KZ-Häftlingen
unserer Region nicht. Dies sind 1500 Einzelschicksale und wir können
das daran geknüpfte Leid nicht nachvollziehen. Mich persönlich
tröstet auch der Gedanke wenig, dass ihr Tod nicht umsonst gewesen
sei. Ich bin im wörtlichen Sinn fassungslos.
Ich bitte Sie, der Opfer und ihrer Umstände schweigend zu gedenken.
Danke meine Damen und Herren.
Ich sehe den angedeutete dreifachen Anlass
unserer Feier auch als einen geistigen Prozess von der Vergangenheit zur
Gegenwart mit den Aufforderungen an die Zukunft.
Auf meinen ersten Punkt bezogen –
Die Neckarlager als regionale Verortung
eines der wichtigsten Terrorinstrumente des Faschismus sollten auch begriffen
werden, nicht nur den Neonazis von heute entgegenzutreten. Dass sie vor
60 Jahren Ausdruck von Rüstungsindustrie und Zwangsarbeit waren, sollte
uns zu aktiven Eingreifen veranlassen, in die ökonomische, politische
und soziale Entwicklung der BRD einzugreifen im Sinne: widerstehen wir
den autoritären und menschenverachtenden Trends!
Auf meinen zweiten Punkt bezogen –
Die VVN war die konsequenteste Organisation
der alten und neuen BRD, die aus dem historischen Geschehen ein gesellschaftliches
Engagement forderte, das sich für menschenwürdiges Lebensbedingungen
aller nicht nur einsetzte, sondern auch verantwortlich fühlte. Die
„runden“ Gedenktage waren und sind immer auch ein Anlass, Markierungen
zu setzen. So möchte ich auf heute vor 70 Jahren hinweisen: Anfang
November 1934 wurden die staats- und parteioffiziellen Feiern der 1923
umgekommenen Nazis benutzt, um die zur Masse gleichgeschalteten „deutschen
Volksgenossen“ dem Nationalsozialismus untertan zu machen, indem man die
und ihre Aufbruchseuphorie nutzte. Dass dies damals zu 95 % gelang, anstatt
dass sich eine demokratische und humane Erinnerungskultur an den November
vor 145 Jahren hätte durchsetzten lassen – ich beziehe mich also auf
den Gegenpol zu den Nazis: dem November 1919 – dies sollte uns veranlassen,
viel mehr als üblich in politischem Handeln auch den „Bauch“ zu berücksichtigen.
Dies führt zu meinen dritten Punkt
– eben neben Kopf/Verstand und Bauch/Körper das Herz/Gefühl anzusprechen.
Wenn wir uns gerade von den Opfern verneigten
und dabei die vielen Differenzierungen mehr fühlen als wissen, die
im Leid und den Umständen lagen, die jeden einzelnen dazu machten,
so verweist dies auf eine Dimension in uns selbst, die Traurigkeit und
Freude hervorrufen mag. Ich wünsche uns in anbetracht der Würdigung
der Toten, dass wir aus der Trauer die Kraft schöpfen, Freude darüber
empfinden zu können, nicht allein zu stehen in dem Bemühen, eine
lebenswerte Welt für alle Geschöpfe zu schaffen.
Danke für ihre Anteilnahme und auf
Wiedersehen.
(es gilt das gesprochene Wort)