Dr. Georg Fischer, KZ Gedenkstätte Neckarelz

Rede auf der Gedenkveranstaltung der VVN, Kreis Heilbronn,
am 7. Nov. 2004 auf dem KZ-Friedhof Kochendorf in Amorbach

Sehr geehrte Damen und Herren,
wir sind hier und heute zusammengekommen, um an drei Dinge zu erinnern:
vor 60 Jahren wurde unsere Region Teil des faschistischen KZ-Systems, indem man die „Neckarlager“ eingerichtete;
diese Gedenkfeier der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten findet heute statt, weil mit dem Datum 9. Nov. 1938 ein Kristallisationspunkt der Unmenschlichkeit benannt ist, die während der Jahre 1930 bis 1950 Europa in Schrecken und Leid versetzte    und
wir verneigen uns auf diesem Friedhof vor den Menschen, die im KZ Kochendorf zu Tode gebracht wurden.

1. vor 60 Jahren war nicht zu übersehen, dass Deutschland den Krieg nicht mehr gewinnen konnte. Als im Juli 1944 selbst in den Militärs der Widerstand offenbar wurde, der sich in der bürgerlichen Elite schon seit der Kriegswende in Stalingrad (Winter 1942/43) formiert hatte, glaubten die Machthaber noch, sich behaupten zu können, wenn sie die Propagandamaschine und die Rüstungsindustrie zu noch höheren Leistungen antreiben würden. Im Spätherbst 1944 produzierten Rüstungsfirmen aus ganz Deutschland in unserer Region Teile der „Wunderwaffen“, die den „Endsieg“ bringen sollten. Im Gipsstollen von Obrigheim Motoren von Daimler-Benz für Flugzeuge, die jedoch nichts mehr gegen die täglichen Bombardierungen deutscher Städte bewirkten. In dem heutigen Bundeswehrstollen von Neckarzimmern Kugellager, damit z.B. Panzer weiter rollen konnten. In Siegelsbach bestückte man die „Vernichtungsraketen“ (Kürzel V 1 und V 2) mit Sprengstoff. Im Salzbergwerk von Kochendorf produzierte man Teile des neu entwickelten Düsenantriebs für Jagdflugzeuge. Dazu verschleppte man etwa 15.000 Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in unsere Region. Aber vorher noch – um diese Fabriken überhaupt hierher aufs flache Land verlagern zu können und sie so vor den Bomben der Alliierten zu schützen – zwang man KZ Häftlinge, ihre letzten Kraftreserven dafür zu verausgaben, die Stollen für die Rüstungsproduktion herzurichten. 700 Meter von hier war ein Zwangsarbeiterlager, 500 m von hier im Tal unterhalb dieses Friedhofs war das KZ. An beide muss erinnert werden, wenngleich unser Augenmerk bislang mehr den Häftlingen galt. Wenn wir zusammenzählen, wie viele Menschen in den Konzentrationslagern von Kochendorf, Neckarelz und seinen Nebenlagern sowie Neckargartach vor 60 Jahren waren, dürften es etwa 5000 gewesen sein. Wenn wir die Zahlen zu errechnen versuchen, wie viele KZ-Häftlinge im Verlauf des letzten Kriegsjahres durch die Region geschleust wurden, dürften es etwa 10.000 gewesen sein. Sie galten nicht als Menschen, sondern wurden als Mittel betrachtet, das einzusetzen sei. Der Zivilbevölkerung sagte man, es seien Verbrecher und allzu gern gingen die Deutschen über die „Zebras“ hinweg, rechtfertigten ihr Mitläufertum mit den Zeitumständen.
Die KZ-Häftlinge waren nicht nur ausgemergelt, mit Lumpen bekleidet und in verlauste, überfüllte Baracken gepfercht. Sie wurden unter Schlägen zu 12-stündiger Schwerstarbeit getrieben, in der sie ohne maschinelle Hilfen Tunnel auszuschürfen hatten – unter ständiger Todesdrohung, denn programmatisch benannte die SS ihren Einsatz als „Arbeit zum Tode“. Der Überlebenswille des einzelnen unterstützte in diesen Umständen längst nicht die Solidarität zwischen den Geknechteten. Hoch anzurechnen ist die Charakterstärke von Häftlingen, die sich nicht korrumpieren ließen. Etliche aber wurden zu Mittätern und ohne die SS-loyalen Kapos wäre das KZ-System nicht aufrecht zu erhalten gewesen.

2. Lassen Sie uns aber über die Ausleger des Terrorsystem KZ in unserer Region hinaus heute auch an die 12 „dunklen Jahre“ denken, die ich in die zwanzig Jahre zwischen dem Zusammenbruch des Kapitalmarktes im Oktober 1929 und der Neugründung der Staaten BRD und DDR 1950 eingebunden sehe.
 Die Reichspogromnacht 1938 wird öffentlich wahrgenommen für den radikalen Antisemitismus. Unbestritten sind die Elemente: Jahrhunderte lang war er vorbereitet, die Ankündigungen in Hitlers Reden und die SA-Aktivitäten von 1933, die Rassen-Gesetzgebung von 1935. Bezweifelt wird aber, ob ein Automatismus zum industriell organisierten Völkermord in den Vernichtungs-KZ führte. Nicht gesehen wird häufig, dass sich der nationalsozialistische Rassismus nicht nur gegen Juden richtete.
Mir scheint es nötig, in dieser Gedenkstunde auf diese Komplexität hinzuweisen: jedes autoritäre Regime findet seine Wege, die von ihm als „gemeinschaftsschädigend“ denunzierten Menschen auszusondern. Darum spreche ich nicht von „wehret den Anfängen“, denn 10 % Stimmenanteil von Rechtsparteien in einer Landtagswahl zeigen doch viel mehr die Gefahr, die „aus der Mitte der Gesellschaft“ kommt. Wiewohl es fraglich sein mag, aus der Geschichte zu lernen, müsste doch gefolgert werden, dass jegweder Ausschluss von Menschen aus der Gemeinschaft ein prinzipiell inhumaner Akt ist. Rassismus ist in dieser Perspektive nur die Spitze eines Eisberges, der in den 80 % unter der Wasseroberfläche schwimmenden Masse die Fremdenfeindlichkeit, die Missachtung von Zuwanderern und Flüchtlingen, das nicht respektieren von fremden Kulturen und anderen Religionen, aber auch die Skepsis gegen Sozialhilfeempfänger, die Vorwürfe gegen Arbeitslose und die Verurteilung von nicht angepassten Lebenshaltungen mit sich führt.
Wenn vor 65 Jahren der Wahn zur deutschen Arbeit alle Menschen diskriminierte, die nicht dieser Volksgemeinschaftsideologie folgten, so sollten wir die uns heute bestimmenden unhinterfragten Selbstverständlichkeiten auf den Prüfstand der Menschenwürde stellen.

3. Mit diesem Friedhof schuf man nach dem 2. Weltkrieg eine Stätte für Tote, die während des Bestehens vom KZ Kochendorf starben und in verschiedenen Massengräbern verscharrt wurden. Dieser Gedenkort steht in der Reihe mit dem in Neckargartach und in Binau. Letzterer verdeutlicht den Kontext des Völkermords mit dem Tot von KZ-Häftlingen, denn die Nazis nutzten dort einen überflüssig gemachten jüdischen Friedhof, um die Toten eines Rüstungsverlagerungsprojektes zu entsorgen. Gegenüber diesem Zynismus weist uns der KZ Friedhof in Neckargartach und der hiesige auf eine Hoffnung hin: Überlebende schufen oft gegen den Zeitgeist für die Toten ein Mahnmal.
Nach groben Schätzungen überlebten etwa 10 % die Lagern für ZwangsarbeiterInnen und KZ-Häftlingen unserer Region nicht. Dies sind 1500 Einzelschicksale und wir können das daran geknüpfte Leid nicht nachvollziehen. Mich persönlich tröstet auch der Gedanke wenig, dass ihr Tod nicht umsonst gewesen sei. Ich bin im wörtlichen Sinn fassungslos.

Ich bitte Sie, der Opfer und ihrer Umstände schweigend zu gedenken.

Danke meine Damen und Herren.
Ich sehe den angedeutete dreifachen Anlass unserer Feier auch als einen geistigen Prozess von der Vergangenheit zur Gegenwart mit den Aufforderungen an die Zukunft.

Auf meinen ersten Punkt bezogen –
Die Neckarlager als regionale Verortung eines der wichtigsten Terrorinstrumente des Faschismus sollten auch begriffen werden, nicht nur den Neonazis von heute entgegenzutreten. Dass sie vor 60 Jahren Ausdruck von Rüstungsindustrie und Zwangsarbeit waren, sollte uns zu aktiven Eingreifen veranlassen, in die ökonomische, politische und soziale Entwicklung der BRD einzugreifen im Sinne: widerstehen wir den autoritären und menschenverachtenden Trends!

Auf meinen zweiten Punkt bezogen –
Die VVN war die konsequenteste Organisation der alten und neuen BRD, die aus dem historischen Geschehen ein gesellschaftliches Engagement forderte, das sich für menschenwürdiges Lebensbedingungen aller nicht nur einsetzte, sondern auch verantwortlich fühlte. Die „runden“ Gedenktage waren und sind immer auch ein Anlass, Markierungen zu setzen. So möchte ich auf heute vor 70 Jahren hinweisen: Anfang November 1934 wurden die staats- und parteioffiziellen Feiern der 1923 umgekommenen Nazis benutzt, um die zur  Masse gleichgeschalteten „deutschen Volksgenossen“ dem Nationalsozialismus untertan zu machen, indem man die und ihre Aufbruchseuphorie nutzte. Dass dies damals zu 95 % gelang, anstatt dass sich eine demokratische und humane Erinnerungskultur an den November vor 145 Jahren hätte durchsetzten lassen – ich beziehe mich also auf den Gegenpol zu den Nazis: dem November 1919 – dies sollte uns veranlassen, viel mehr als üblich in politischem Handeln auch den „Bauch“ zu berücksichtigen.

Dies führt zu meinen dritten Punkt – eben neben Kopf/Verstand und Bauch/Körper das Herz/Gefühl anzusprechen.
Wenn wir uns gerade von den Opfern verneigten und dabei die vielen Differenzierungen mehr fühlen als wissen, die im Leid und den Umständen lagen, die jeden einzelnen dazu machten, so verweist dies auf eine Dimension in uns selbst, die Traurigkeit und Freude hervorrufen mag. Ich wünsche uns in anbetracht der Würdigung der Toten, dass wir aus der Trauer die Kraft schöpfen, Freude darüber empfinden zu können, nicht allein zu stehen in dem Bemühen, eine lebenswerte Welt für alle Geschöpfe zu schaffen.

Danke für ihre Anteilnahme und auf Wiedersehen.
 
 

(es gilt das gesprochene Wort)