Rede zur Gedenkfeier am 9.11.2004,
Synagogengedenkstein Heilbronn, Allee
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
in der Nacht vom 9. auf 10. November 1938
ging an diesem Platz die Synagoge, das Zentrum der Heilbronner jüdischen
Gemeinde, in Flammen auf.
In der folgenden Nacht wurden die Schaufenster
aller jüdischen Geschäfte eingeschlagen, ihre Einrichtungen zerstört.
Schlägertrupps drangen in die Wohnungen der jüdischen Heilbronner
ein, zerschlugen und plünderten die Einrichtungen, schlugen und verhafteten
die Bewohner. Sie schleppten sie zur Gestapo in die Wilhelmstr. und deportierten
sie anschließend ins Konzentrationslager Dachau. "Volkszorn gegen
Juden", nannte das Heilbronner Tagblattes am 11. November 1938 dieses Pogrom.
Aber jeder der es wissen wollte wusste schon damals, dass dieser Volkszorn
nicht spontan entstanden, sondern im ganzen Lande von der faschistischen
Partei organisiert war. Auch in Heilbronn brauchte es ein "Stabstreffen"
von ca. 40 Funktionären der SA und der NSDAP, im Turnerzimmer der
Gaststätte Harmonie, die sich dann anschließend als Führer
auf die organisierten Terrortrupps verteilten. "Keinem Volksgenossen fiel
es ein, sich an jüdischem Gut zu bereichern" schreibt das Heilbronner
Tagblatt weiter.
Eine dreiste Lüge: Als die Verhafteten
nach Wochen der Quälerei aus Dachau zurückkamen, fanden sie ihre
Wohnungen und ihre Geschäfte entweder systematisch zerstört oder
enteignet vor. Die Stadt Heilbronn z.B. hatte 19 jüdische Anwesen
zum Spottpreis aufgekauft und ebenso billig an Parteigenossen vermietet.
22 jüdische Unternehmen, waren in
der Zwischenzeit "arisiert worden", d.h. billig an Volksgenossen verkauft
worden. Das Unternehmen Volkszorn war nicht nur gut organisiert, sondern
auch ökonomisch kalkuliert worden. Und dennoch - nicht nur die organisierten
Nazis, und ihre vielen, viel zu vielen willigen Helfer, hatten Anteil an
diesem Verbrechen: Wer waren diejenigen, die schon zuvor andere Geschäfte
aufsuchten, als es hieß "Kauft nicht beim Juden.
Wo waren die Proteste, als Professoren
und Lehrer entlassen wurden und Ärzte Berufsverbot erhielten?
Wo blieb der Aufstand der Anständigen,
als mit den Nürnberger Rassegesetzen das Unrecht zum Recht erklärt
worden waren?
Wann war der Tag erreicht, am dem Widerstand
zur Pflicht wurde? Und wie viele haben diese Pflicht erfüllt?
Wir haben heute das Wissen und Erfahrung
der Geschichte. Wir wissen, was damals viele nur ahnten und verdrängten:
am 9. November 1938 brannten die Synagogen
bis zum Kriegsbeginn 1939 wurde etwa die
Hälfte der in Deutschland lebenden Juden vertrieben.
Ab September 1939 brannten die polnischen
Dörfer.
Die Länder Europa wurden überfallen.
Mit dem Krieg gegen die Sowjetunion begann
die Massendeportation in die Vernichtungslager.
Die systematische und fabrikmäßige
Ermordung von 6 Millionen Menschen.
Wir wissen heute, die Geschichte
hat es uns gelehrt:
Faschismus ist keine Meinung. Faschismus
ist das größte Verbrechen, das die Menschheit bisher kennen
gelernt hat.
Im Grundgesetz wurden die Konsequenzen
gezogen;
Jede Diskriminierung aus rassischen, religiösen
und anderen Gründen ist heute verboten. Verboten ist die Aufstachelung
zum Rassenhass. Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Haben wirklich alle aus der Geschichte
gelernt?
Streiflichter aus Deutschland
Stuttgart heute:
Die größte überregionale
Zeitung in Baden-Württemberg die Stuttgarter Zeitung veröffentlich
eine ganze Sonderseite zum Gedenken an den heutigen historischen Tag. Erinnert
wird an den 9. November 1989 als Tag des Triumphes und der Freude. Der
9. November 1938, als Tag des Verbrechens wird nicht erwähnt. Die
Millionen Opfer sind zusammen mit der Schuld und der Scham vergessen.
Juni 2004 Bochum und Karlsruhe
66 Jahre nachdem in Heilbronn und im ganzen
Land die Synagogen brannten, marschierten deutsche Nazis wieder gegen eine
Synagoge auf: In Bochum demonstrierte die NPD gegen den Bau der dortigen
Synagoge. "Sollte dies als antijüdische Manifestation empfunden werden",
rief der Kundgebungsredner, der stellvertretende Landesvorsitzende der
NPD aus, "jawohl dann bin ich antijüdisch. Und ich bin stolz darauf."
Der Skandal ist nicht allein, dass Nazis
das tun. Der Skandal ist, dass sie das tun dürfen. Ausgerechnet das
Bundesverfassungsgericht, das die Aufgabe hätte über die Grundanliegen
des Grundgesetzes zu wachen, hat diesen Aufmarsch unter Berufung auf die
Meinungsfreiheit ausdrücklich erlaubt.
Dezember 2003 Heidelberg und 5 andere Städte:
"Die Juden sind unser Unglück".
Dieser Satz ist keine Erfindung der Nazis.
Er stammt aus einer Hetzschrift des Heidelberger Professors Heinrich von
Treitschke aus dem Jahre 1874 und diente den Nazis als Vorlage für
ihre antisemitische Propaganda. Im jahre 2003 beantragten Heidelberger
Bürgerinnen und Bürger die Umbenennung der Heidelberger Treitschkestr.
Der Bezirksbeirat stimmte diesem Antrag zu. Am 17. Dezember 2003 lehnte
der Heidelberger Gemeinderat den Antrag überraschend ab.
November 2003
Der CDU Bundestags Abgeordnete Hohmann
bezeichnet die Juden als Tätervolk. 14 Tage lang versucht seine Partei,
dies als Kavaliersdelikt herunterzuspielen. Schließlich weicht sie
öffentlichem Druck und strengt eine Parteiordnungsverfahren an. In
unzähligen Leserbriefen fordern CDU-Mitglieder und andere den Verbleib
ihres Vorbildes in Partei und Bundestag und bedanken sich für dessen
angeblich "mutige Worte". In einer infratest-umfrage meinen 49 % der befragten
CDU-Wähler, Äußerungen wie sie Hohmann gemacht habe müssten
heute möglich sein.
Wann beginnt das Verbrechen des Faschismus?
Auf ihrem Höhepunkt 1932 erreichte die NSDAP 37,4 Prozent der Wählerstimmen, obwohl "Mein Kampf" in jeder Buchhandlung erhältlich war.
Vier Jahre zuvor 1928, war Hitlers NSDAP noch eine Splitterpartei. Gerade mal 2,8 % hatte sie bei der Reichstagswahl in diesem Jahr bekommen.
Ihr explosionsartiges Anwachsen in diesen vier Jahren verdankte die NSDAP zum einen der finanziellen Förderung und Unterstützung durch Teile des Kapitals. Hitler war kein Betriebsunfall der Geschichte. Hinter ihm standen Industrielle und Bankiers: von Thyssen bis Krupp von Haniel bis Siemens, von Schröder bis Bosch, von Flick bis zum Verleger Hugenberg. Sie haben Hitler finanziert, weil sie sich von ihm versprachen, den Standort Deutschland nach ihrem Geschmack zuzurichten: um Rohstoffquellen zu erobern, um neue Absatzmärkte zu erzwingen, um Rüstungsprofite zu machen.
Aber auch die Wirtschaftskrise und die
Politik zu ihrer Bewältigung ebnete den Nazis den Weg zur Macht.,
Ein aggressiver Abbau sozialer Rechte, die hemmungslosen Abwälzung
der Krisenlasten von oben nach unten. Lohnkürzungen, Streichung der
Zumutbarkeitsklauseln für Arbeitslose, generelle Kürzung der
Arbeitslosenunterstützung, Einführung der Pflichtarbeit für
Jugendliche -
All diese auch heute aus jeder Talkschau
bekannten politischen Forderungen und Maßnahmen hatten damals zur
Verarmung breiter Teile der Bevölkerung geführt und fruchtbaren
Boden für die Propagandalügen der Faschisten geschaffen.
Nein, das Verbrechen Faschismus beginnt
nicht erst, wenn Menschen zu Tode kommen. Es beginnt, wenn das Recht des
Stärkeren und des Profits über das Recht aller Menschen auf Leben
in Würde und sozialer Sicherheit gestellt wird.
2,8 % hatte die NSDAP 1928 fünf Jahre
vor ihrem Machtantritt.
Mit 9,2% zog die NPD vor wenigen Wochen
in den sächsischen Landtag ein.
6,1 % errang die Deutsche Volksunion in
Brandenburg und im Saarland verfehlten die Neonazis mit vier Prozent nur
knapp den Einzug in den Landtag.
Der Aufstieg der Faschisten damals war
so wenig Zufall wie es das Anwachsen neofaschistischer Aktivitäten
und Wahlerfolge heute ist.
Im letzten Jahr waren fast 11 000 neofaschistische
Straftaten in Deutschland zu verzeichnen. Über 120 Menschen sind in
den letzten Jahren von Neofaschisten getötet worden. Wieder erleben
wir, das jüdische Gräber geschändet, dass Synagogen angezündet
werden, dass Menschen beleidigt, gehetzt verprügelt verbrannt und
totgeschlagen werden.
Fast täglich demonstrieren heute
wieder Faschisten offen durch unsere Strassen.
Ihre Aufmärsche werden von den Gerichten
erlaubt und von der Polizei gegen Proteste geschützt.
Wann beginnt heute der Tag , an dem Widerstand
zur Pflicht wird?
Heute braucht es nicht den Mut, den es
damals zu Zeiten der Reichspogromnacht brauchte, Widerstand zu leisten.
Aber auch heute braucht es Zivilcourage
sich den Nazis entgegenzustellen.
Täglich mehr!
Ein weiteres Streiflicht aus dem Land
in dem vor 66 Jahren die Synagogen brannten:
Im August 2004 lehnt Kultusministerin
Schawan die Einstellung des Realsschullehreres Michael Csaszkóczy
in den Schuldienst ab. In der Begründung heißt es u.a. Michael
Csaszkóczy habe sich schützend vor ein Flüchtlingsheim
gestellt. Er habe Demonstrationen gegen Neonaziaufmärsche angemeldet.
Der Aufstand der Anständigen, Michael
Csaszkóczy und viele andere haben ihn geprobt, lange bevor er ausgerufen
wurde.
Auch heute fehlt es nicht an der Bereitschaft
vieler, gegen Antisemitismus, Rassismus und Faschismus aktiv zu werden.
Wo immer Naziaufmärsche stattfinden,
dort finden sich auch Menschen zum Protest zusammen.
Und immer wieder finden sich Richter,
die nicht diesen Protest zum Recht der Demokraten erklären, sondern
den Aufmarsch der Nazis.
Immer finden sich Polizisten die Fotografieren,
abdrängen einkesseln verhaften - nicht die Nazis, sondern die protestierenden
Antifaschisten.
Immer findet sich ein Verfassungsschutz
Geheimdienst, der nicht die Nazis misstrauisch verfolgt, sondern die demonstrierenden
Antifaschisten.
Es mangelt nicht so sehr am Aufstand der
Anständigen.
Woran es fehlt das ist der Anstand der
Zuständigen.
Wie in der Weimarer Republik fehlt es
auch in vielen Amtsstuben, Gerichtsälen und Parlamenten der Bundesrepublik
am Willen, mit den Lehren aus der Geschichte und den Klaren Bestimmungen
des Grundgesetzes gegen jede faschistische Betätigung ernst zu machen!
Dieser Tage wir eine neue Verfassung für
die europäische Union vorgelegt.
Während die Verfassungen fast aller
Mitgliedsländer der Europäischen Union geprägt sind von
den Erfahrungen aus Faschismus und Krieg verschwendet der vorgelegte Entwurf
keinen Gedanken an das antifaschistische Erbe. Aufrüstung und das
Recht auf Kriegsführung sind in dieser Verfassung so selbstverständlich
wie die Abwehr von Flüchtlingen. Eine Sozialverpflichtung des Eigentums
ist ihr nicht bekannt.
Anstelle einer solchen neuen Verfassung,
brauchen wir endlich die Durchsetzung des alten Grundgesetzes:
Artikel 139 bestimmt, dass "die zur Befreiung
des deutschen Volkes erlassenen Rechtsvorschriften" bestehen bleiben. Demnach
sind alle neofaschistischen Gruppen und Organisationen aufzulösen!
Das ersetzt nicht die politische Aufklärung
über die Barbarei von Faschismus und Neofaschismus, aber es erleichtert
sie.
Faschismus beginnt, wenn bei viel zu vielen,
als normal gilt, was niemals normal sein darf:
Und er beginnt, wenn es viel zu wenige
werden, die ihm widerstehen.
Den Opfern, denen wir heute gedenken,
bleiben wir diesen Widerstand so lange schuldig, bis der Schwur der Häftlinge
von Buchenwald Wirklichkeit geworden ist:
Die Vernichtung des Nazismus mit seinen
Wurzeln. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit.
Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg!
(es gilt das gesprochene Wort)